(Kurze Einleitung.)
(Rohfassung:) Für Menschen aus Herford und Umgebung hat Selges Buch einen besonderen Charme. Der Autor streut Orte, Personen und Begebenheiten ein, die man kennt. Wem würden sich nicht die Nackenhaare aufstellen bei dem Gedanken an das von Selges Bruder Martin erfundene »Herforder Roulette«. Gemeint ist der Höllenritt, bei dem dieser „mit dem Fahrrad in vollem Tempo die steile Marienstraße runter“ brettert, um dann “90 Grad links in die Bismarckstraße” einzubiegen, „die ebenso steil vom Stuckenberg kommt“. Hier schreibt einer, der weiß, dass das schon damals eine Wette auf das Leben war. Der kennt sein Herford und weiß auch, wie sich die Stadt hier und da anfühlt.
Etwa wenn er den Blick aus dem Fenster seines Bruders im ersten Stock des Elternhauses beschreibt, über die Gefängnisgärtnerei und die damaligen Neubauten am Ortsieker Weg hinweg bis hin zur Egge, „wo der Sendemast steht“. Der kennt aber auch die Heimeligkeit besserer Herforder Wohngegend. In der Veilchenstraße, so schreibt er: „Da sehen die Häuser aus wie Kaffeetanten.“
Solche Details verleihen seinem Buch Authentizität und Glaubwürdigkeit. Natürlich kann man bei einzelnen seiner Schilderungen schon leichte Zweifel anmelden. Etwa, wenn er bild- und wortreich beschreibt, wie seine Mutter nach 275 Fahrstunden durch die Verwechslung von Kupplung und Gaspedal krachend in die Auslage ihres Handarbeitsgeschäft in der Elisabethstraße gefahren und deshalb zum vierten Mal durch die Führerscheinprüfung gefallen sei. Das kann natürlich so gewesen sein. Es ist an dieser Stelle auch gar nicht wichtig, ob seine Zahlenangaben korrekt sind.
Selge ist kein Buchhalter. Er kommt von der Schaupielerei zum Schreiben. Er will Geschichten erzählen. Als Darsteller und als Autor. Wer sollte besser wissen als er, dass der Erfolg einer Geschichte entscheidend davon abhängt, dass ihre Inszenierung stimmig ist. Stimmig heißt aber nicht, dass jedes Detail der Realität entsprechen muss. Für ihn ist das »Wie erzählt wird« mindestens so wichtig, wie das »Was erzählt wird«. Oder wie er es auf dem Umschlag seines Buches formuliert: „Eine Erinnerung ist noch keine Erzählung. Soll sie das werden, beginnt die Fiktion.“
Mit anderen Worten: Bei ihm gehört es dazu, dass nicht alles stimmt. Es geht um eine gute Erzählung, nicht um die historische Wahrheit. Wer sich die Mühe macht, in alten Herforder Adressbüchern zu stöbern, der findet die Fahrschule Lauszus, in der Selges Mutter gelernt hat. Zu finden ist dort neben anderen auch greise Pastor Podewils. Er hat die Beerdigung von Gustav Linnenbrügger durchgeführt, den der kleine »Etja« Selge sehr mochte.
Ob der alte Herr aber tatsächlich so verschusselt war, dass er auf dem Friedhof mit durchdringender Stimme ein Tischgebet gesprochen hat, während die Trauergemeinde das »Vaterunser« betete, das weiß vermutlich nur der Autor. „Eine Erinnerung ist noch keine Erzählung. Soll sie das werden, beginnt die Fiktion.“
Ja, auch Gustav Linnenbrügger, den Hauptverwalter der JVA, und seine Frau Anna hat es gegeben. Sie wohnten links vom Gefängnistor, in der Eimter Straße 9, zwei Häuser weiter als die Selges. Es war eines der kleinen Siedlungs-Doppelhäuser mit den zwei Eingängen. Im anderen Eingang lässt Selge den Herr Niewöhner wohnen. Er ist das Gegenteil der warmherzigen Linnenbrüggers. Unnahbar und von einer kalten Härte, die den kleinen »Etja« abstößt.
Ein ehemaliger SS-Mann, mit Nazi Vergangenheit im Knastbetrieb. Einer, der immer wieder von der NS-Zeit spricht, aber fast immer nur in Andeutungen. Seinen Namen sucht man in Adressbüchern und Meldeunterlagen vergebens. Niemand dieses Namens hat in der Eimter Straße 9 oder sonstwo in der Kolonie am Knast gewohnt. Es bleibt Selges Geheimnis, ob er die Person erdacht, oder einer realen Person einen anderen Namen gegeben hat.
Wie er Anna und Gustav Linnenbrügger beschreibt, kann man sich schon vorstellen, dass es in ihrer kleinen Küche eine besondere Vertrautheit gab, die nicht nur durch den warmen Kakao entstand, den der kleine »Etja« dort immer zu trinken bekam. Jene wohlige Atmosphäre, immer samstags um Zwölf, in der die guten Worte und Geschichten verfangen, die dem Jungen anderswo verschwiegen wurden.
Wenn Selge Anna Linnenbrügger dort das Lied „Mein Vater wird gesucht“ anstimmen lässt, eines der schönsten Lieder des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur – wenn er sie dabei von ihrem Gustav musikalisch begleiten lässt, ganz dezent nur mit Fagott und Becken, deren Töne mit dem Mund geformt sind – das ist schon ziemlich großes Kino in Worten.
Das Lied ist gewissermaßen die musikalische Beschreibung des Schicksals von Fritz Bockhorst, der die Gestapo-Haft in Bielefeld nicht überlebt hat. Er habe sich erhängt, behaupteten die Gestapo-Leute. Als er beigesetzt wurde, fand seine Frau unter einem Pflaster auf seiner Stirn eine Wunde, die wie ein Loch aussah.
Mit Details und in Bildern berichtet Selge vom Widerstand des Fritz Bockhorst und wie sich seine Frau nach 1945 vergeblich um Gerechtigkeit bemühte. Kein Zweifel, die Geschichte geht unter die Haut. Aber es ist eine Geschichte, die Gustav Linnenbrügger einem damals Sechsjährigen erzählte. Es fällt schwer zu glauben, dass Edgar Selge sich 67 Jahre danach noch ohne Fiktion daran erinnern konnte.
Da könnte es hilfreich gewesen sein, dass das Schicksal des Fritz Bockhorst erforscht, aufgeschrieben und erzählt wurde. Mit den Ergebnissen von Recherchen in verschiedenen Archiven und den Gesprächen mit mehreren Zeitzeugen und Familienangehörigen ist es als Podcast und Aufsatz veröffentlicht – auf meiner Internetseite. Vorangestellt habe ich dabei das Lied „Mein Vater wird gesucht“. Das ist der einzige Ort, an dem diese Details bisher zu finden waren. Es spricht wohl einiges dafür, dass Selge die Erinnerungen seines kleinen »Etja« an meinen Forschungsergebnissen, sagen wir, »geschärft« hat.
Kein Missverständnis: Ich freue mich aus verschiedenen Gründen sehr, dass die Geschichte des Fritz Bockhorst durch Selges Buch einem noch größeren Publikum bekannt wird. Es ist eine dieser unendlich vielen vergessen gemachten Unrechtsgeschichten, mit denen NS-Opfer und ihre Familien alleine gelassen wurden. Ich hätte es allerdings fair gefunden, wenn ich davon nicht erst durch das Lesen des Selge-Buches erfahren hätte.
Selge macht für den Tod des Fritz Bockhorst den Bielefelder Gestapo-Beamten Julius Siekmann verantwortlich. Dieser habe, so schreibt er, „laut Gerichtsurteil fünfzehn politische Gefangene auf dem Gewissen“. Bei den Linnenbrüggers habe der kleine »Etja« von dieser Geschichte erfahren und der alte Gustav habe dabei mit der Faust auf den Tisch geschlagen: “Sieben Jahre für fünfzehnfachen Mord!“
An dieser Stelle scheint es mir notwendig zu sein, den Bereich der Erzählung und Fiktion einmal zu verlassen und allein die bekannten Fakten zu betrachten.
Julius Siekmann gab es tatsächlich. Er kam 1934 aus Berlin zur Bielefelder Gestapo, um das Dezernat »Linksbewegung« zu übernehmen. Dabei brachte er aus der Metropole unter anderem, wie er es nannte, das »Möbeln« mit in die Provinz. Das bedeutete, um Nazi-Gegner bei Verhören zum Reden zu bringen, wurde die sogenannte Stuhl-Methode angewandt.
Dabei wurde den Verhafteten die Lehne eines Stuhles so über den Kopf gestülpt, dass diese sich nicht mehr bewegen konnten. Gleichzeitig wurden die Opfer kopfüber so zu Boden gerissen, dass der Oberkörper über dem Stuhl lag. Bewegungsunfähig und wehrlos mussten sie es dann ertragen, von meist mehreren Gestapo-Leuten hinterrücks mit Gummiknüppeln, Ochsenziemern und Stöcken auf Oberkörper, Gesäß und Beine geschlagen zu werden. Nicht selten, bis dabei Blut floss.
Im Mai 1935 war das Bielefelder Polizeigefängnis hoffnungslos überbelegt. Normalerweise war es üblich, Häftlinge, die bereits länger dort waren, in andere Gefängnisse zu verlegen. Im Fall der einsitzenden Fritz Bockhorst, Gustav Milse und drei weiteren Gefangenen war das jedoch nicht möglich. Sie waren so sadististisch gefoltert worden, dass sie ins Gefängnislazarett nach Herford verlegt werden mussten.
Dort wurden sie vom Anstaltsarzt Dr. Karl Ulrich untersucht. In einem Schreiben an den Generalstaatsanwalt in Hamm sprach Ulrich danach von „schweren Misshandlungen, die Schutzhaftgefangenen durch Beamte der Geheimen Staatspolizeistelle in Bielefeld zugefügt werden“. Am Beispiel Gustav Milses diagnostizierte er tagelange starke Nierenblutungen und beschrieb starke Blutergüsse, die sich von den Schulterblättern zu den Rippenbögen „über beide Gesäße hin, ringsherum um beide Oberschenkel bis zum Knie beider Beine“ zogen. „Über den beiden Gesäßbacken befand sich je ein handtellergroßes Hautstück, das völlig abgestorben war.“
Die Aufnahme der Fünf in das Lazarett hielt Siekmann und dessen Prügelgarde nicht davon ab, immer wieder zu »Vernehmungen« in Herford aufzutauchen. Anschließend diagnostizierte Dr. Ulrich für Gustav Milse, dieser sei „erneut durch Faustschläge in das Gesicht misshandelt (worden), sodass er starke Blutergüsse in der Umgebung beider Augen davon trug.“ Für Ulrich war „diese Handlungsweise nur mit mittelalterlichen Folterungen (zu) vergleichen.“
Das veranlasste ihn offenbar zu einer außergewöhnlich mutigen Form von Widerstand und menschlicher Solidarität. Spätere Zeugenaussagen belegen, dass er mit den Gefangenen verabredete, diese sollten bei den nächsten Misshandlungen durch die Gestapo laut schreien. Als es dazu kam, trat Ulrich mit der Autorität eines Medizinalrates auf und forderte die Gestapo-Leute erfolgreich auf, die Folterungen zu unterlassen Nach einigen Tagen wurden die Gefangenen wieder zurück nach Bielefeld verlegt.
Julius Siekmann war zweifellos ein sadistischer Folterer. Er wurde, wie Selge schreibt, im Jahr 1949 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Die vom Herforder Gefängnisarzt Dr. Ulrich dokumentierten Folterungen gehörten dabei zu den Verbrechen, die berücksichtigt wurden.
Die Tötung von Menschen, auch nicht der von Selge genannte fünfzehnfache Mord, ist Siekmann jedoch nie vorgeworfen worden. Es hat ihn auch nicht gegeben. Mit dem Tod von Fritz Bockhorst, Gustav Milse und anderen hatte Siekmann nichts zu tun. Entsprechend konnte er deshalb auch nicht verurteilt werden.
So sehr ich Selges sonstigen »kreativen« Umgang mit Fakten und Fiktion als Stilmittel nachvollziehen kann, so wenig möchte ich ihn an dieser Stelle akzeptieren. Der unbegründete Vorwurf fünfzehnfachen Mordes, auch gegen einen sadistischen Verbrecher, ist aus meiner Sicht nicht zu tolerieren.
(…)