Neue Fragestellungen führen zu neuen Zielen für meine Arbeit

Als ich mei­ne Arbeit begann, war mein Ziel klar: Im Jahr 1988 war mein Buch mit der Lebens­ge­schich­te Hei­ko Ploe­gers erschie­nen. Mehr als 30 Jah­re danach woll­te ich eine Neu­auf­la­ge her­aus­ge­ben. Alle neu­en Infor­ma­tio­nen soll­ten dabei inte­griert wer­den. Ich habe noch ein­mal alle Quel­len zu Hei­ko Ploe­ger, aber auch zu allen sei­ner Kol­le­gen durch­ge­ar­bei­tet. Es gab völ­lig neue Infor­ma­tio­nen und neue Fra­ge­stel­lun­gen. Es war das Ziel, die­se Quel­len sicht­bar zu machen, die in den Jahr­zehn­ten zuvor, unbe­kannt und ver­ges­sen waren.

Etwa 180 Ver­fah­ren wegen Rundfunkverbrechen

Inzwi­schen hat sich jedoch eine Ver­än­de­rung mei­nes Arbeits­zie­les erge­ben. Zum ers­ten Mal habe ich in den letz­ten Mona­ten die Akten aller Pro­zes­se in der Hand gehabt, die in den Jah­ren 1943/44 gegen Men­schen aus Bie­le­feld und Umge­bung geführt wur­den. Dadurch ent­stand ein ver­än­der­ter Blick auf das The­ma Wider­stand und Ver­fol­gung in OWL. Was ich mir bis dahin nicht vor­stel­len konn­te, war die enorm hohe Zahl von etwa 180 Ver­fah­ren, die vor dem Volks­ge­richts­hof und dem Ober­lan­des­ge­richt Hamm in den Jah­ren 1943/44 gegen Men­schen aus Bie­le­feld und Umge­bung geführt wur­den. Die­se Zahl ist außer­ge­wöhn­lich. Zwei Gesta­po-Beam­te waren abge­stellt, die Ver­fah­ren zu »bear­bei­ten« und durch­zu­füh­ren. Und sie lie­fer­ten, … es spricht eini­ges dafür, dass es sogar sehr viel mehr war als an den meis­ten ande­ren Stel­len des deut­schen Reiches.

Alle (!) die­se Pro­zes­se wur­den mit den Anschul­di­gun­gen, Rund­funk­ver­bre­chen, Wehr­kraft­zer­set­zung, Vor­be­rei­tung von Hoch­ver­rat und Ähn­li­chem geführt. In den Ankla­ge­schrif­ten der ers­ten Pro­zes­se hieß es: „Seit Beginn des Jah­res 1943 sind in Bie­le­feld und Umge­bung zahl­rei­che Per­so­nen, die vor der Macht­über­nah­me mar­xis­ti­schen Par­tei­en ange­hört haben, fest­ge­nom­men wor­den. Sie haben bis in die jüngs­te Zeit hin­ein Nach­rich­ten und poli­ti­sche Vor­trä­ge aus­län­di­scher Sen­der in deut­scher Spra­che allein oder gemein­sam mit Mit­tä­tern abgehört, …“.

Das Hören von London und Moskau führte zu Todesstrafen und Zuchthaus

Alle die­se Pro­zes­se führ­ten ent­we­der zu Zucht­haus­stra­fen oder zu Todes­ur­tei­len. Man­che Gefan­ge­ne star­ben an den Haft­be­din­gun­gen in den NS-Gefäng­nis­sen. Es geht dabei um jene rund 180 Ver­fah­ren, die vor dem Volks­ge­richts­hof und dem Ober­lan­des­ge­richt Hamm geführt wur­den. Zusätz­lich geht es jedoch auch um die Fäl­le jener Men­schen, die vor allem im letz­ten etwa hal­ben Jahr des Regimes, bereits ver­haf­tet waren, aber nicht mehr ange­klagt wur­den. Ihre genaue Zahl ist unge­wiss. Sie könn­te viel­leicht bei etwa 20 liegen.

Gefäng­nis­se und Gerich­te waren zer­stört. Die übli­chen Bear­bei­tungs­we­ge der Behör­den waren teil­wei­se stark beein­träch­tigt. Das Nazi-Regime funk­tio­nier­te mit jedem Tag immer weni­ger. Natür­lich wur­de kein Gefan­ge­ner frei­ge­las­sen. Die Men­schen waren ver­haf­tet. Sie blie­ben ohne Urtei­le inhaf­tiert. Nun leis­te­ten sie Zwangs­ar­beit, etwa beim Bau von Bun­kern. Nicht alle blie­ben in Hei­mat­nä­he. Für eini­ge wur­de es eine Odys­see in den Tod.

Es gab die Gesta­po noch, aber ihre Struk­tu­ren funk­tio­nier­ten nur noch bedingt. Sie wur­de nun immer weni­ger die Orga­ni­sa­ti­on, die ver­folg­te und der Jus­tiz zur Ver­ur­tei­lung vor­leg­te. Einer­seits war sie nun auch prak­tisch in die Lan­des­ver­tei­di­gung ein­be­zo­gen, ande­rer­seits muss­te sie, wie jede NS-Orga­nis­ti­on zuneh­mend ihr eige­nes Ende vorbereiten.

Heiko Ploeger war einer von vielen

In die­sem Umfeld ist die Geschich­te Hei­ko Ploe­gers wich­tig. Sein Fall ist aus­führ­lich und gut recher­chiert. Aber er ist nur einer von sehr vie­len, die wir bis­her nicht ken­nen. Nach vie­len wur­de auch nicht wirk­lich gesucht.  Die­je­ni­gen, die über­lebt hat­ten – in der Regel waren es Män­ner – kehr­ten aus den Gefäng­nis­sen zurück. Danach waren sie frei. Aber ihre Zucht­haus­stra­fen wur­den von nie­man­dem in Fra­ge gestellt. Sie gal­ten sogar grund­sätz­lich als berech­tigt. Des­halb blie­ben sie auch ohne jede Aner­ken­nung. Ihre Ver­fol­ger wur­den nicht ernsthaft

Ich arbei­te zur Zeit dar­an, die etwa 200 Bio­gra­phien ins Bild zu set­zen, sie zu schrei­ben, mit Gerichts­ur­tei­len und ande­rem Archiv­ma­te­ri­al. Es geht jedoch auch dar­um, die Täter und ihre Arbeits­wei­se zu benen­nen. Sie waren kri­mi­nell. Sie wen­de­ten ver­bre­che­ri­sche Geset­ze an. Wie war es mög­lich, ganz nor­ma­le Men­schen, Fami­li­en­vä­ter, Arbei­ter, in so gro­ßer Zahl zu Kri­mi­nel­len zu erklä­ren. Was wur­de aus den Tätern und vie­le Fra­gen mehr.

Ver­mut­lich wur­de nur sel­ten über die­se Art der Ver­fol­gung gespro­chen. Ich bin sehr dar­an inter­es­siert, von Kin­dern und Enkeln zu hören, wie die Erin­ne­rung in den Fami­li­en geschah. Selbst­ver­ständ­lich garan­tie­re ich abso­lu­te Ver­schwie­gen­heit. Bit­te sen­den sie mir eine Nachricht.

 

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