1. November 2022: (noch daheim)
Polyneuropathie? — Vor knapp einem halben Jahr kannte ich noch nicht einmal das Wort. Mag sein, dass ich es schon einmal gehört hatte. Aber mit mir hätte ich es nie in Verbindung gebracht. Inzwischen ist es sicher, ich habe diese Krankheit. Was im Mai dieses Jahres als Verdacht auftauchte, ist zur Gewissheit geworden.
Es war wie immer, wenn man wissen will, was einem das Leben schwer macht. Ich war nach langer Ratlosigkeit und langem Suchen froh, als sich endlich eine Diagnose abzeichnete. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich zu verstehen begann, was die Diagnose bedeutete: Polyneuropathie ohne Ursache. Was Klarheit schaffen sollte, war jedoch der Ausgangspunkt für neue Ungewissheit. Die Krankheit gilt schulmedizinisch als nicht behandelbar. Und genau das ist das Problem.
Rückblende:
Wenn ich zurückdenke, war es schon längere Zeit so, dass mir das Gehen schwer fiel. Ich bin lieber mit dem Rad gefahren. Radfahren fiel mir leicht. Seit dem Beginn dieses Jahres begann sich grundlegend etwas zu verändern. Ich konnte es anfangs noch nicht in Worte fassen. Schmerzen, die auch vorher schon mal da waren, wurden stärker. Immer wieder hatte ich mit unglaublich harten einschießenden Schmerzen in beide Füße, Unter‑, manchmal auch Oberschenkel zu tun.Irgendwann halfen auch »normale« Schmerzmittel nicht mehr.
Eine Ärzteodyssee begann. Der Hausarzt empfahl die Fachärzte. Der Radiologe fand keinen Grund für Schmerzen, der Fußchirurg war ebenso ratlos. Etwas mehr Zeit und Empathie brachten die plastischen Chirurgen des Klinikums Bielefeld auf. Sie hatten mich vor einigen Jahren bei einer Wundheilungsstörung am Fuß behandelt. Im Mai dieses Jahres waren sie die ersten, die in ihrer Sprechstunde den Verdacht der Polyneuropathie äußerten.
Die Diagnose:
Umfangreiche Klinikuntersuchungen im August brachten Gewissheit. Meine gesundheitliche Situation war längst dramatisch verändert. Bis etwa Mai/Juni hatte ich noch halbwegs »normal« Gehen gekonnt. Eingeschränkt zwar, aber es ging. Fast ohne Einschränkungen konnte ich damals noch weitere Stecken Radfahren. Kurze Zeit später kam ich wegen Schwanken und Schmerzen nicht mal mehr auf das Fahrrad. Gehen war schon vorher nur noch mit Unterarmgehstützen möglich. Ständig war da der Eindruck, die Einschränkungen nahmen von Woche zu Woche zu.
Das Schlimmste in dieser Situation war die Diagnose »Polyneuropathie (PNP) ohne Ursache«. Bei PNP aufgrund von Diabetes, Alkoholmissbrauch, Tumorerkrankungen usw. gibt es etwas, das behandelt werden kann. Ist die Ursache jedoch unbekannt, kapituliert die Schulmedizin mehr oder weniger. Lediglich eine symptomatische Behandlung (vor allem Schmerzen, Ergotherapie) findet noch statt. Das eigentliche Krankheitsgeschehen bleibt unbehandelt. — Das ist nur schlecht zu akzeptieren, wenn man spürt, wie die Krankheit ständig fortschreitet.
Die Suche nach Alternativen …
Der Gedanke, dem eigenen Verfall hilflos zusehen zu müssen, ist für mich kaum zu ertragen. Die Suche nach Alternativen begann. So fand ich zur Klinik am Steigerwald, eine Privatklinik, in der mit den Mitteln traditioneller chinesischer Medizin gearbeitet wird. Eine Info-Veranstaltung in der Klinik, ein knapp einstündiges Gespräch mit einer dortigen Ärztin und auch die ausführliche Internetseite, unter anderem mit Patientenberichten finde ich überzeugend.
… und die Kostenfrage
Die Klinik am Steigerwald ist eine Privatklinik. Ich bin nicht privat, sondern gesetzlich krankenversichert. Meine Krankenkasse hat die Möglichkeit zur Übernahme solcher Kosten zwar in ihrer Satzung, lehnt sie in meinem Fall aber bisher ab. Die Auseinandersetzung darüber ist noch nicht entschieden. Sie ist sehr unerfreulich. Ich werde sie weiterführen, aber meine PNP wartet nicht, bis eine Entscheidung fällt. Das bedeutet, ich muss die Kosten erst einmal privat aufbringen. Bei einem Tagessatz von 398,- Euro und einem Aufenthalt von etwa 5 bis 6 Wochen käme da schnell ein fünfstelliger Betrag zusammen. Es könnte sein, dass dafür das Ersparte nicht ausreicht. Als das klar war, fing ich an, fast nur noch in Klinik-Tagessätzen zu rechnen.
Es hat mich sehr gerührt, dass in dieser Situation Freundinnen und Freunde auf die Idee kamen, die Einnahmen eines kleinen Nachbarschafts-Flohmarktes für meinen Klinkaufenthalt zu »spenden«. Einige wenige, die mir nahe sind, haben sogar mehr getan. Solche Dinge tun unendlich gut. Ich hatte lange mit dem Gedanken gespielt, einen Kredit aufzunehmen, um auch den letzten Rest des Klinikaufenthaltes zu finanzieren. Das muss ich nun wohl nicht mehr. Dafür bin ich sehr dankbar.
4. November 2022: (noch daheim)
Es war mir sehr wichtig, vor meinem Weg in die Klinik noch einmal mein Gangbild festzuhalten und es auch auf dieser Seite zu dokumentieren. Es gibt im Netz durchaus viele Seite zum Thema Polyneuropathie, auf denen meist allgemein über die Krankheit gesprochen wird. Ihr wirkliches Erscheinungsbild ist dort so gut wie nie zu sehen. Dabei ist mir absolut bewusst, dass es sehr verschiedene Verläufe geben kann.
Ich gehöre wohl zur Gruppe derer, die einen schweren Verlauf der PNP haben. – Ja. es hat mich erschreckt, als ich das Video meines Gangbildes vor der eigenen Haustür sah. Dass ich jede Eleganz der Bewegung verloren habe, war mir schon klar. Dass mein Schwindel und Schwanken so heftig aussehen, habe ich mir selbst nicht vorgestellt. Da war wohl noch eine Menge Wunschdenken dabei.
Das Video ist jetzt der Maßstab. Wird es möglich sein, in der Klinik und danach das Fortschreiten der PNP wenigstens erst einmal zu stoppen? Vielleicht sogar ein klein wenig Gangsicherheit zurückzubringen? Langsam, mit sehr viel Geduld? Stück für Stück? – Wir werden sehen …
5. November 2022 (noch daheim)
Morgen steige ich in den Zug in Richtung Steigerwald. Mein Gepäck ist bereits seit Donnerstag auf dem Weg in die Klinik. Heute soll es eigentlich dort ankommen. Noch hat der Gepäckservice die Ankunft nicht bestätigt. Aber es ist halt ein Service der DB …;-).
Jetzt beginnt die Zeit der Abschiede. Mit dem Gang in die Klinik wird sich manches ändern. Vor allem die Ernährung. Heute abend war ich mit meiner Liebsten noch einmal im Restaurant essen. Beim Griechen. Es gab gegrilltes Fleisch, dazu roten Wein aus Naoussa und den üblichen Ouzo. Ja, es war lecker – und ebenfalls ja, alles das steht in der TCM-Klinik auf dem Index. Und so geht es weiter mit dem Kaffee zum Frühstück morgen, mit dem Brötchen und dem Käse darauf. Alles das und einiges mehr wird es für längere Zeit nicht mehr geben. Es wird sich also einiges ändern im Steigerwald. Nein, ich freue mich nicht darauf, dass ich für längere Zeit in die Klinik gehe – und dabei ist der Verzicht auf bestimmte Speisen noch das geringste Problem. Aber ich bin sehr froh darüber, dass es endlich los geht.
Montag, 7. November 2022 (Ankunft):
Die Anreise per Bahn am Sonntag, mit Übernachtung in Schweinfurt war die richtige Entscheidung. So konnte ich heute entspannt aufstehen, noch einmal sündig frühstücken und mich dann auf den Weg machen: Taxi (vom Hotel zum Bahnhof Schweinfurt) – Linienbus (von Schweinfurt nach Gerolzhofen) – nochmal Taxi (von Gerolzhofen zur Klinik am Steigerwald). Es geht auch sehr viel teurer nur mit einem Taxi, aber so war es ganz in Ordnung.
Mit Betreten der Klinik beginnt wieder das Leben mit Mundschutz. Außer mir sind zwei Frauen neu angekommen. Kaum sitze ich an der Anmeldung, rollt ein Hermes-Bote meinen Koffer herein. Zwei Tage später als bestellt, aber trotzdem pünktlich. Das schafft auch nicht jeder. Kompliment, Deutsche Bahn.
Von der Anmeldung gleich weiter zum Arzttermin. Die Aufnahmeärztin bleibt auch meine Ärztin für den Aufenthalt. Wir gehen recht ausführlich meine Krankheitsgeschichte durch (knapp 45 Minuten). Mit etwas Abstand folgen noch einmal etwa 20 Minuten Vorstellung beim Oberarzt.
Das erste TCM-Essen: Mit Spannung erwartet, erwies es sich als lecker. Süßkartoffel-Curry mit Mienudeln. Hatte ich noch nie, würde ich aber nochmal nehmen.
Das Zimmer: Freundlich, nicht zu klein, warme Farben, viel Holz, auch an den elektrisch verstellbaren Betten, Balkon mit einer sehr schönen Fernsicht (später mehr) kein Fernseher (auch dazu später mehr). Es ist wie in jeder Klinik, wer am längsten da ist, kriegt das Bett am Fenster. Ich schlafe also an der Wand und das darf auch so sein.
Dienstag, 8. November 2022
Geweckt wird hier, sehr zivil, ab 7.30 Uhr. Der erste (zweite) Tag beginnt mit Wiegen, Blutdruckmessen und Blutabnahme. Die Mahlzeiten werden, Corona-bedingt, in zwei Gruppen eingenommen. Das Frühstück um 8 Uhr und um 8.45 Uhr. Ich brauche morgens meine Zeit. Da bin ich sehr froh, dass ich immer in der zweiten Gruppe bin. Das gilt fast noch mehr für das Abendessen um 17.45 Uhr statt um 17 Uhr.
10 Uhr Arzttermin, 12 Uhr Körpertherapie. Dass sich mal jemand um meine Fußreflexzonen kümmert, kannte ich bisher noch nicht. Erst recht nicht fast 45 Minuten. Deshalb wusste ich auch bisher nicht, wie gut das tut. Als ich hinausgehe bin ich etwas unsicher, habe dann aber doch das Gefühl zwei Millimeter größer zu sein. So bleibt es ein paar Stunden.
Mein Zimmernachbar ist ein sehr freundlicher Schweizer, Physiotherapeut von Beruf, ungefähr mein Alter. Er hat ebenso Polyneuropathie, aber in einem frühen Stadium. Auch er ist in diese Klinik gekommen, weil in seinem Land, wie in Deutschland, die PNP ohne Ursache schulmedizinisch nicht behandelt wird.
Als ich abends zum Essen gehe (es gibt Falafel mit Dip) merke ich, dass ich zum ersten Mal seit langer Zeit meine Füße wieder ein wenig abrollen kann. Ich lasse klammheimlich meine Fußreflexzonen-Masseurin mit einer kleinen Ehrenrunde hochleben. Auch das bleibt zwar nur einen Abend, aber es ist für den Einstieg ein unglaublich gutes Gefühl, zu bemerken, da geht scheinbar noch was.
Mittwoch, 9. November 2022
Let’s talk about Dekokt. Die wesentliche TCM-Medizin sind in der Klinik am Steigerwald die sogenannten Dekokte, aus Heilpflanzen hergestellte Aufgüsse. Jede Patientin und jeder Patient bekommt davon täglich zwei Thermoskannen, eine vor‑, die andere nachmittags, die dann in kleinen Portionen ausgetrunken werden soll. Brrrrh, chinesische Heilpflanzen, kann das schmecken? – Na ja, etwa so wie ein halbwegs angenehmer Kräutertee. Also, es geht … und wenn man sich dran gewöhnt hat, geht’s sogar ganz gut. Übrigens, wenn ein Dekokt überhaupt nicht schmeckt, enthält er wahrscheinlich die falsche Medizin (Heilpflanzen). Ich habe mich anfangs schwer damit getan, jeweils diesen knappen halben Liter pro Flasche zu trinken. Es war mir einfach zuviel, aber ich habe mich auch daran gewöhnt.
Heute Nachmittag bekam ich die erste Akkupunktur meines Lebens. Je eine Nadel in Hände, Unterschenkel und Füße. Sie sollen, sagt meine Ärztin, eine beruhigende und entspannende Wirkung haben. Das hat wohl funktioniert …
Donnerstag, 10. November 2022
Stell Dir vor, Du gehst in der TCM-Klinik zum Frühstück und die erste Frage, die Dir gestellt wird, ist: „Möchten Sie Tee oder Kaffee?“ – Wie bitte, Kaffee? „Na ja“, lautet die Antwort, „es ist Lupinen-Kaffee.“ – „Ach“, murmle ich vor mich hin, „den richtigen Kaffee gibt’s vermutlich nur für’s Küchenpersonal.“ Sie hat Humor, grinst und holt mir das angesagte dunkle Getränk.
Überhaupt, mit meinen Krücken bin ich hier privilegiert. Soweit ich bisher sehen konnte, bin Ich aktuell der Einzige mit solchen Gerätschaften. Ich werde deshalb an den Tischen platziert, die für Personen mit Rollstuhl und Rollator reserviert sind – und ich werde bedient. Alle anderen Patienten bedienen sich selbst an Büffets.
So kam ich schon am Dienstag zum ersten Hirsebrei-Frühstück meines Lebens. Die Küchenfrau, ebenso freundlich wie patent, fragte mich schon am ersten Tag, was ich denn frühstücken wollte. Als ich mich etwas ratsuchend umsah, nahm sie die Sache in die Hand: „Ich mache Ihnen mal eine Probier-Portion.“ Dann brachte sie ein Schälchen mit (lau-)warmem Hirsebrei, darüber etwas Apfelbrei und ein paar Früchte.
Das ist schon eine heftige Umstellung für jemanden, der wochentags an selbstgebackenes Brot und an den Wochenenden an Brötchen zum Frühstück gewöhnt ist. Also gut, ich hab’s gelöffelt. Und, ja, es schmeckt sogar. Es ist halt ungewohnt, die ersten zweimal. Heute ist es das dritte Mal und es geht schon. Es kann schließlich nicht schlecht sein, wovon sich weite Teile der Weltbevölkerung ernähren.
Übrigens gönne ich mir nach dem gelöffelten Schälchen noch zwei ganz einfache Scheiben Vollkornbrot, nur mit Butter. Mhmm … Es gibt auch Marmelade, Honig und Aufstriche. Die probiere ich sicher später mal.
Freitag, 11. November 2022
Langsam bekommen die Abläufe hier auch für mich etwas Normales. Das zeigt sich vielleicht auch darin, dass ich heute morgen tiefenentspannt erwachte und es beim Blutdruckmessen auf einen Traumwert von 100 zu 60 brachte. In jungen Jahren, als ich noch regelmäßig Sport machte, war das keine Seltenheit, aber so beruhigend niedrig war der Wert wohl schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
In der Körpertherapie gab es heute etwas Neues, die erste Tuina-Massage meines Lebens. Ich geb’s zu, ich musste die Therapeutin auch erst fragen, was sie da macht. Sie erklärt es als Technik, bei der sie durch Drücken und Greifen entlang der Körpermeridiane vorhandene Blockaden auflösen und die Energien wieder zum Fließen bringen will. Sie sagt, sie wende eine sanfte Form von Tuina an. In China würde es manchmal deutlich ruppiger praktiziert. Mir gefällt das Sanfte.
Als ich mich, wie immer, recht wackelig von der Massagelege erhebe, stellt sich die Therapeutin recht nahe vor mich hin und sagt, sie wolle kontrollieren, wie weit ich mich aufrichten könne. Ich versuche es und schaffe es zum ersten Mal seit langer Zeit zu Stehen, ohne dabei in die Knie zu gehen. Besser noch, ich stehe da noch immer wackelig, aber ziemlich aufrecht und mit durchgedrückten Knien. – Dann greife ich mir wieder meine Krücken und stakse verspätet zum Mittagessen. Es gibt Tagessuppe und Polenta mit Bohnen. Für den Erfolg hätte es schon etwas festlicher sein dürfen.
Samstag, 12. November 2022
Es ist Samstag und auf meinem Terminplan für heute steht … Nichts. Absolut Gar nichts. – Natürlich könnte man jetzt auf die Idee kommen, das liege an der Wochenendpause des Klinikpersonals. Das ist aber wohl nur die halbe Wahrheit.
Ich bin am Montag hier angekommen und habe eigentlich spätestens seit Dienstag das Gefühl in eine ganz andere Welt geraten zu sein. Der ultimative Beweis dafür ist für mich, dass ich am Mittwochmorgen die Nachricht bekam, Arminia Bielefeld habe am Vorabend 2:0 in Paderborn gewonnen. Das Spiel hatte ich total vergessen. Ich, als Arminen-Fan. Zuhause wäre mir das nicht passiert.
Aber ich verpasse nicht nur solch entscheidende Ereignisse. Ich habe seit Sonntag kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen, was überhaupt in der Welt passiert. Sonst könnte ich mir keinen Tag vorstellen, ohne über Politik, Weltgeschehen und manchmal auch Gossip informiert zu sein. Hier ist es, als machte das Leben eine Vollbremsung. Ich bin ausgestiegen und stehe im Wald, im Steigerwald.
Tagsüber bin ich unterwegs, dreimal Essen, Arzttermin, Körpertherapie, Akkupunktur und Sonstiges. Mit meinen staksigen Krücken strengt mich das ganz schön an. Der Dekokt bringt den Körper auch innerlich in Bewegung. Das merke ich. Deshalb schlafe ich tagsüber häufiger. Ja, und was ist mit Fernsehen? – Das letzte was ich sah, war der Tatort am Sonntag. Ein Langweiler mit blöder Geschichte. Hier gibt es einen Fernsehraum. Den habe ich aber bisher noch nicht gesehen. Es fehlt mir nicht. Ich lese viel, gehe um 22 Uhr ins Bett, lese dann noch etwas weiter und schlummere dann weg.
Ich beschreibe das deshalb so ausführlich, weil ich glaube, dass hier die Vollbremsung des Alltags zum Programm gehört. Es könnte der Eindruck entstehen, es sei vor allem die Körpertherapie, die für Veränderungen und Fortschritte sorgt. Das wäre zu kurz gedacht. Ärztliche Behandlungen, Therapien, Medizin (Dekokte) und die totale Ruhe bilden ein >Gesamtkunstwerk<.
Sonntag, 13. November 2022
Der Samstag war ein wenig textlastig. Deshalb heute ein bildschöner Sonntag. Der begann natürlich mit Hirsebrei, aber auch mit einem echten gekochten Ei, einem echten Brötchen … und echtem Lupinenkaffee. Es folgte ein Arzttermin und Akkupunktur. Und dann der Blick nach draußen.
Es scheint ein bildschöner Tag zu werden und von hier hat man eine sehr schöne Aussicht. Die Klinik liegt im Wald, oberhalb eines Weinbergs. Darunter liegt weites Land. Heute morgen lag es, wie häufig in diesen Tagen, fast völlig unter einer Wolkendecke.
Die Aussicht erinnert ein wenig an den Blick, den Herforder vom Restaurant Steinmeyer kennen. Nach links, wo dort das Hermannsdenkmal zu sehen ist, findet man hier den Spessart und seine Ausläufer. Wo man von Herford aus die Müllverbrennungsanlage in Heepen findet, gibt es hier die Kühltürme und das Reaktorgebäude des AKW Grafenrheinfeld. Und rechts, etwa wo man von Steinmeyer aus Jöllenbeck vermutet, findet sich hier die Metropole Schweinfurt. (Übrigens: wenn man die Fotos auf einem Laptop oder Computer anklickt, werden sie <groß<. Nicht meckern; Ich habe die Bilder aus der Hand fotografiert und jeweils zwei auf die Schnelle zusammengefrickelt.)
Montag, 14. November 2022
Wollen Sie noch eine Akkupunktur?“, fragte mich der Oberarzt am Ende des heutigen Arzttermins. Er hatte diesen vertretungsweise übernommen, da meine Ärztin krank war. Mir war der außerplanmäßige Termin „an der Nadel“ sehr recht, denn heute morgen war ich gar nicht gut drauf. Hier zwickte es, da zwackte es und an den unteren Gelenken tat’s sehr heftig weh. Ich bewegte mich (mal wieder) wie ein Greis. Der Oberarzt hörte sich mein Klagen an und erklärte die Probleme vor allem dann damit, dass durch die Behandlung halt viele Dinge in meinem Körper in Bewegung gebracht worden seien. Da sei es völlig normal, wenn sich die Gelenke jetzt meldeten. Er schlug vor, meinen Dekokt ein wenig zu verändern und bot dann die zusätzliche Akkupunktur an. Sie half nicht sofort, aber über den Tag wurde es ein wenig leichter.
Kurz vor Feierabend dann ein Termin bei der Körpertherapie, den ich nicht so schnell vergessen werde. Ich könnte meine Socken heute anlassen, hatte die Therapeutin gesagt. Sie wolle sich um meine Rückseite kümmern, dafür sollte ich mich normal auf die Behandlungsliege legen. Heute ginge es ihr um das Thema Grenzen spüren und Grenzen erweitern, vor allem um die Stärkung meines Rückens. Das ist für mich eine sensibles Thema, denn ich habe einen Morbus Bechterew. Meine Wirbelsäule ist, bis auf den Übergang zum Kopf, knöchern versteift.
Vor 34 Jahren hatte ich sogar eine Aufrichtungs-OP, bei der die Wirbelsäule durch 20 Schrauben, 40 Muttern und zwei Gewindestangen wieder aufgerichtet wurde. Flapsig gesagt, da bewegt sich nicht mehr viel, was gestärkt werden kann – hatte ich gedacht. Sie fuhr mit einer Hand auf meiner rechten Seite an der Hüfte unter den Körper. Es fühlte sich an, als wollte sie mit ganz leichten Bewegungen „das Gebiet absuchen,“ Psychotonik hieße, was sie da mache. Es ginge dabei um „Grenzen spüren und Grenzen erweitern“. Das Ziel sei, auf Muskeln, Atmung und Gewebe einzuwirken. „Das Gewebe ist wie eine Katze. Die zeigt auch, wenn sie gestreichelt werden will.“ – Ich mach’s kurz, als sie an meinem rechten Fuß angelengt war, fühlte ich mich auf der rechten Seite weicher, wärmer und fünf Zentimeter größer, als auf der anderen Körperhälfte.
Und links? – Dort fand sie im Bereich Steißbein/Hüfte eine Region, die mir vor Schmerzen fast den Atem nahm. Dort sind offenbar in großem Ausmaß Spannungen vorhanden, die ich vorher nie bemerkt habe. Es wird Zeit brauchen, hier für Erleichterung zu sorgen. Als sie auch hier am Fuß ankam, war ich wieder zu Atem gekommen und auch gefühlt wieder gleich groß.
Dienstag, 15. November 2022
Natürlich ist alles in diesem Sandkasten vergänglich. Schon vom nächsten Vorbeikommenden kann ein neues Muster gezeichnet werden. Aber wann haben wir im Alltag schon einmal die Chance, einfach nur aus Spaß, kleine Spuren zu hinterlassen. Ich spiele mit dem Gedanken, wenn ich ein wenig gesünder wieder hier entlassen werde, mir eine solche Spielecke im Bastelkeller daheim selbst zu bauen.
Ein wenig erinnerte mich der Sandkasten sofort an das Lied “Beachcombing” von Mark Knopfler und Emmylou Harris. Das Kämmen des der Strände ist bekannt aus vielen Urlaubsorten an der See, wo morgens die hinterlassenen Abfälle der Touristen und nach der Flut die angespülten Hinterlassenschaften der See weggeharkt werden.
Ab heute gibt es morgens einen neuen Dekokt (nachmittags bleibt’s beim alten). Seine Wirkung bleibt abzuwarten. Er schmeckt „gesunder“, das heißt etwas mehr nach Kräutern.
In der Körpertherapie stand wieder Tuina auf dem Programm und ich bin wirklich unglaublich beeindruckt von der Kompetenz und Arbeit der Frauen. Es arbeitet scheinbar nur weibliches Personal in diesem Bereich. Auch als ich hier nach etwa 45 Minuten wieder aufstand fühlte ich mich wieder einige Zentimeter größer und konnte deutlich aufrechter stehen. Meine Schmerzen, vor allem im Bereich der linken Hüfte sind unter anderem wohl durch Muskelverkürzungen infolge von Schon- und Fehlhaltungen entstanden.
»Waldesruh«