Steigerwald Seite 4

Vier­te Sei­te (28. Novem­ber bis 4. Dezem­ber 2022)

Mon­tag, 28. Novem­ber 2022

Heute beginnt mei­ne vier­te Stei­ger­wald-Woche, es fühlt sich so an, als könn­te es die letz­te sein. Als ich hier ange­kom­men bin, habe ich mich sehr schlecht gefühlt. Vor allem war da die­se gro­ße Angst, der schein­bar end­lo­se kör­per­li­che Ver­fall der letz­ten Mona­te kön­ne wei­ter­ge­hen. Am Anfang die­ser Woche habe ich wirk­lich das Gefühl, es hat sich etwas posi­tiv sta­bi­li­siert. Ich füh­le mich weit davon ent­fernt, geheilt zu sein. Aber es ist mil­li­me­ter­wei­se ein wenig Sicher­heit gekom­men. Was sich mona­te­lang wie Treib­sand anfühl­te, hat ein wenig Fes­tig­keit bekommen.

Diens­tag, 29. Novem­ber 2022

Zu den Beson­der­hei­ten die­ser Kli­nik gehört ein umfang­rei­ches täg­li­ches Vor­trags- und Ver­an­stal­tungs­pro­gramm mit Qui­Gong, Medi­ta­ti­on, Autro­ge­nem Trai­ning, Pro­gres­si­ver Mus­kel­ent­span­nung und mehr. Ein wie­der­keh­ren­des High­light sind wöchent­li­che Aben­de mit Chef­arzt Dr. Chris­ti­an Schmin­cke, regel­mä­ßig ange­kün­digt mit dem schlich­ten Titel „Vor­trag und Fragen“.

Der 76-jäh­ri­ge ist selbst deut­lich kör­per­be­hin­dert. Viel­leicht ist es auch des­halb so fas­zi­nie­rend, ihn zu erle­ben, wie er im gro­ßen Stuhl­kreis all­ge­mein­ver­ständ­lich schwie­ri­ge medi­zi­ni­sche Fra­gen ver­mit­telt. Da thront kein Ver­kün­der von Alters­weis­hei­ten eines lan­gen Medi­zinerle­bens. Schmin­cke spricht, ohne Eitel­keit und Selbst­in­sze­nie­rung, mit lei­sem Ton­fall, freund­lich, humor­voll und ohne Wort­hül­sen. Dabei wirkt er manch­mal fast jugend­lich, wenn er, die Bei­ne läs­sig über­ein­an­der geschla­gen, in Jeans und Sak­ko, die kom­pli­zier­ten Sach­ver­hal­te in ein­fa­che Wor­te fasst.

Heu­te unter ande­rem die­sen: Die Schul­me­di­zin hält sich zugu­te, sie kön­ne Poly­neu­ro­pa­thien nur behan­deln, wenn es eine bekann­te Ursa­che gebe, zum Bei­spiel Dia­be­tes. Die­se Aus­sa­ge hat­te mich immer irri­tiert. Wes­halb soll­te die schul­me­di­zin PNP bei Dia­be­ti­kern behan­deln kön­nen, wenn sie bei ande­ren als unbe­han­del­bar gilt? Bei genau­em Hin­se­hen steckt hin­ter der Behaup­tung tat­säch­lich ein Eti­ket­ten­schwin­del. Schul­me­di­zi­nisch wür­de in einem sol­chen Fall zwar die Dia­be­tes behan­delt, das heißt, der Dia­be­ti­ker „rich­tig ein­ge­stellt“. Sei­ne Poly­neu­ro­pa­thie blie­be jedoch eben­so unbe­han­delt, wie bei Men­schen mit PNP “ohne erkenn­ba­re Ursa­che”. Mit allen ent­spre­chen­den Konsequenzen.

Mitt­woch, 30. Novem­ber 2022

Seit Anfang die­ser Woche gehe ich auf die Pis­te. Der Ober­arzt kam auf die Idee, ich sol­le ver­su­chen, nicht nur mit mei­nen Krü­cken (Unter­arm­geh­stüt­zen) zu gehen, son­dern mit Wal­king-Stö­cken, die ich wie Ski-Lang­lauf­stö­cke benut­ze. Der Vor­teil ist eine deut­lich auf­rech­te­re – nor­ma­le­re – Kör­per­hal­tung, der Nach­teil ist ein Ver­lust von Halt und Sicherheit.

Ich trai­nie­re das Gehen mit „den Din­gern“ hier auf dem Flur. Nach etwa 20 Metern (eine Bahn) bin ich schlapp, nach 40 Meter bin ich erschöpft. Der Bewe­gungs­ab­lauf, die Koor­di­na­ti­on, das Kon­zen­trie­ren strengt mich auf eine Wei­se an, die ich nicht für mög­lich gehal­ten hät­te. Schließ­lich weiß ich doch genau, wie man geht. Ich habe es schließ­lich mehr als sech­zig Jah­re gekonnt. Jetzt kann ich es nur noch theo­re­tisch. Prak­tisch muss ich es erst wie­der lernen.

Dabei wird mir bewusst, wie­viel in mei­nem Kör­per vor allem im letz­ten hal­ben Jahr “kaputt gegan­gen” sein muss. Vor sechs Mona­ten konn­te ich noch län­ge­re Stre­cken Rad­fah­ren und – mit Ein­schrän­kun­gen – halb­wegs nor­mal Gehen. Ich krie­ge einen hei­li­gen Zorn bei dem Gedan­ken an die kom­pe­ten­te Fach­kraft des Medi­zi­ni­schen Diens­tes, die es sich erlaub­te, ohne mich je zu sehen, mir kei­ne Ver­schlech­te­rung mei­nes Gesund­heits­zu­stan­des attes­tie­ren zu dürfen.

Der Ver­fall, der in die­ser Ent­wick­lung steck­te, ist durch die Behand­lung in der Kli­nik am Stei­ger­wald erst ein­mal gestoppt. Es hat sich etwas getan, und es tut sich auch wei­ter noch etwas. Das Gefühl habe ich immer mehr. Natür­lich mache ich mir die Hoff­nung, mir mög­lichst viel Ver­lo­re­nes zurück­ho­len zu kön­nen. Aber dabei darf ich mir die Lat­te wohl auch nicht uner­reich­bar hoch legen. Viel­leicht muss ich sogar in man­chen Din­gen das Schei­tern für mög­lich hal­ten, damit die Ent­täu­schung nicht zu groß wird. 

Wenn Ner­ven­ge­we­be zer­stört ist, so sag­te es Kli­nik­lei­ter Dr. Schmin­cke hier bei einem sei­ner Vor­trä­ge, dann lässt es sich nicht rege­ne­rie­ren. Als mir im August die­ses Jah­res bei einer Biop­sie am Unter­schen­kel das Pro­ben­stück eines Nervs ent­fernt wur­de, sag­te mir der Chir­urg, die­ses sei „stark ver­än­dert“. Eine Pro­be des Mus­kel­ge­we­bes eben­so. Ob da noch Rege­ne­ra­ti­on mög­lich ist, bleibt abzu­war­ten. Hoff­nung macht mir der Gedan­ke, dass Ner­ven mit einer Geschwin­dig­keit von 1 Mil­li­me­ter pro Tag wach­sen. Viel­leicht las­sen sich man­che Funk­tio­nen doch “neu ver­bin­den”. — Sieht so aus, als wäre das Leben wie­der span­nend gewor­den. Wir wer­den sehen, …

Frei­tag, 2. Dezem­ber 2022

Drei Wün­sche frei

Heu­te ist mein letz­ter Tag in der Kli­nik. Mor­gen rei­se ich nach drei Wochen und fünf Tagen ab. Zum Abschluss erlau­be ich mir drei Wün­sche für die Zukunft.

1.

Mei­ne Ein­schrän­kun­gen beim Gehen führ­ten dazu, dass Rad­fah­ren für mich immer wich­ti­ger wur­de. Im letz­ten Jahr habe ich des­halb mein Rad zum E‑Bike umge­baut. So wie die Din­ge ste­hen, wer­de ich es auf abseh­ba­re Zeit wegen Schwan­ken und Schwin­del nicht mehr benut­zen kön­nen. Auf das Rad­fah­ren zu ver­zich­ten, ist jedoch kei­ne Opti­on. Mit einem guten the­ra­peu­ti­schen Drei­rad (E‑Bike) den Kör­per zu trai­nie­ren und dabei nach und nach den Hori­zont zu erwei­tern, das wäre was. Ein sol­ches Rad gibt es nicht von der Stan­ge. Dabei geht es um ein the­ra­peu­ti­sches Hilfs­mit­tel nach SGB V, samt aller büro­kra­ti­schen Vor­schrif­ten und Vor­aus­set­zun­gen. Und schon kommt wie­der das Gespenst unschö­ner Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Kran­ken­kas­se und Medi­zi­ni­schem Dienst aus den Ecken. Aber viel­leicht wer­de ich ja wirk­lich mal über­rascht mit Freund­lich­keit, Hilfs­be­reit­schaft, Kom­pe­tenz und Empa­thie. Das wäre schön …

2.

Eine Rei­se zum Public Record Office, dem bri­ti­schen Natio­nal­ar­chiv in Kew bei Lon­don möch­te ich schon sehr lan­ge unter­neh­men. Dort lagern noch vie­le unent­deck­te Doku­men­te aus der Zeit der bri­ti­schen Besat­zung nach dem Zwei­ten Welt­krieg — eine Wunsch­vor­stel­lung für einen His­to­ri­ker. Immer kam mir bis­her etwas dazwi­schen. Krank­heit, Coro­na-Beschrän­kun­gen, jetzt PNP. Wie die Din­ge jetzt ste­hen, wer­de ich wohl sehr gedul­dig sein müs­sen. Mich in einer Mil­lio­nen­me­tro­po­le wie Lon­don mit U‑Bahnen und Bus­sen zu bewe­gen auf Roll­trep­pen, Stra­ßen und Plät­zen wird mich auf abseh­ba­re Zeit hoff­nungs­los über­for­dern. Auch ein Besuch im Bun­des­ar­chiv im – ver­gli­chen mit Lon­don – Dorf Ber­lin müss­te sehr gut vor­be­rei­tet sein. Ob Ber­lin noch­mal klappt, viel­leicht sogar irgend­wann Lon­don? – Wer weiß es. Ein Wunsch bleibt es in jedem Fall.

3.

Auf einer Nord­see­insel in den Dünen sit­zen und bei anrol­len­der Flut beob­ach­ten, wie die Wel­len umschla­gen und auf dem Strand aus­lau­fen. Das könn­te ich sicher stun­den­lang. So lan­ge ich auf Geh­hil­fen oder Stö­cke ange­wie­sen bin – und das wird sicher noch eini­ge Zeit so blei­ben – kom­me ich sicher nir­gends rich­tig an den Strand. Auch nicht, für einen vor­sich­ti­gen Strand­spa­zier­gang. Bis dahin übe ich täg­lich in mei­nem Kopf­ki­no. Dort läuft jeden Tag fünf bis zehn Minu­ten mein „Traum von der Nord­see“. Wenn’s rich­tig gut läuft, schaf­fe ich mir dabei auch die Geräu­sche von Meer und Wind. Manch­mal sogar ein paar Möwen­schreie. Und wenn es rich­tig gut geht, spü­re ich den Sand in mei­nen Hän­den. – Zur Beloh­nung hole ich mir dann ein Fisch­bröt­chen vom Wochen­markt. Am liebs­ten mit dem Dreirad ;-).

 

Zurück zur drit­ten Woche

Für Erhard Krull †

Foto: Jür­gen Escher

Am 15. Novem­ber 2020 starb Erhard Krull. Vie­le Men­schen kann­ten ihn, beson­ders in Her­ford. Hier, aber auch dar­über hin­aus, hat er vie­le Spu­ren hin­ter­las­sen. Die Erin­ne­rung an ihn ist ver­knüpft mit einer Viel­zahl sozia­ler Pro­jek­te und der Samm­lung von Spen­den, die er ange­sto­ßen und ver­wirk­licht hat. Hin­zu kam die Ver­schö­ne­rung zahl­rei­cher Strom­käs­ten im Stadt­bild und ande­res mehr.

Erhard war mein Freund. Vie­le Din­ge haben uns ver­bun­den. Auch an mei­ner his­to­ri­schen Arbeit hat er inten­siv Anteil genom­men. Sei­ne Spu­ren fin­den sich des­halb eben­so auf die­ser Inter­net­sei­te. Sei­ne Hin­wei­se führ­ten dazu, dass ich begann, genau­er nach der außer­ge­wöhn­li­chen Geschich­te sei­nes Groß­on­kels Fritz Bock­horst zu gra­ben, der die Gesta­po­haft in Bie­le­feld nicht über­leb­te. Hin­zu kamen ver­schie­de­ne Bei­trä­ge und Gedan­ken von ihm zu mei­nen Arti­keln. Sei­nen letz­ten Kom­men­tar auf die­ser Sei­te schrieb er rund sechs Wochen vor sei­nem Tod. Er ende­te mit den Wor­ten: „Die­ter, mach wei­ter so! Das ist eine wun­der­ba­re Homepage.“

Trauerfeier am 4. Dezember 2020

Erhard kann­te den Ernst sei­ner Erkran­kung. Ein gutes Jahr vor sei­nem Tod bat er mich, bei sei­ner Bei­set­zung die Trau­er­an­spra­che zu hal­ten. Damals wirk­te der Gedan­ke, Erhard könn­te bald ster­ben, noch völ­lig unwirk­lich. Zu die­ser Zeit reis­te er noch viel und war nahe­zu rast­los unter­wegs. Die mög­li­che Erfül­lung sei­ner Bit­te schien Licht­jah­re entfernt.

Das Leben hat­te ande­re Plä­ne. Ich muss­te mein Ver­spre­chen am 4. Dezem­ber 2020, auf dem Andachts­platz im Fried­wald Kal­le­tal erfül­len. Für das Geden­ken hat­te ich das Lied „So vie­le Som­mer“ von Rein­hard Mey aus­ge­sucht. (Lei­der fand ich für die Ver­öf­fent­li­chung an die­ser Stel­le nur die Inter­net­fas­sung einer Fern­seh­auf­zei­chung mit Applaus. Ich hof­fe, die Stim­mung des Lie­des, das bei der Trau­er­fei­er natür­lich in der Ori­gi­nal­fas­sung abge­spielt wur­de, kommt trotz­dem »‘rüber« )

Die Ansprache für Erhard

(Wort­laut ohne per­sön­li­che Anmer­kun­gen an die Familie)

(…)

Lie­be Freun­din­nen und Freun­de von Erhard,

das Lied von Rein­hard Mey will bewusst an Erhards Lie­be zu den Sän­gern und Lie­der­ma­chern anknüp­fen. Zu sol­chen wie Han­nes Wader, von dem er noch vor zwei Mona­ten, in sei­nem letz­ten Leser­brief an die bei­den Her­for­der Tages­zei­tun­gen schrieb, dass er sei­ne Lie­der so sehr lie­be. Zu sol­chen wie Bob Dylan, von dem er vor ein­ein­halb Jah­ren wochen­lang sehr stolz war, noch eine Kar­te für des­sen Kon­zert in Bie­le­feld bekom­men zu haben.

Oder eben auch zu jenem Rein­hard Mey, des­sen Fra­ge, wie vie­le Som­mer noch blei­ben, fast unwei­ger­lich zu der Fra­ge führt, wie oft Erhard wohl denen, die ihm nahe waren, vor etwa vier, fünf Mona­ten noch in Gedan­ken zuge­trun­ken haben mag. In jener Zeit also, in der für ihn immer deut­li­cher wur­de, dass die­ser Som­mer wohl sein aller­letz­ter sein würde.

In einer Zeit, in der er zum Bei­spiel mit unge­heu­rer Wil­lens­kraft sogar noch zwei­mal nach Öster­reich auf­ge­bro­chen ist – in der aber bereits die Leich­tig­keit und die Kör­per­kraft fehl­ten, um in den besuch­ten Orten noch ein­mal, wie frü­her, her­um­zu­wan­dern oder auch nur ein wenig zu schlendern.

Jede Gene­ra­ti­on hat ihre eige­nen Lie­der und für die­je­ni­gen, die, wie Erhard in den 1960er/70er Jah­ren jeden noch so klei­nen Traum von Frei­heit, Frie­den, Gerech­tig­keit und Demo­kra­tie begie­rig ein­ge­so­gen haben, weil sie beim Ein­schal­ten von Fern­se­hern und Radi­os ver­zwei­fel­ten an den täg­li­chen Bil­dern und Berich­ten über Viet­nam-Krieg, Ras­sen­hass, Mor­de an poli­ti­schen Hoff­nungs­trä­gern, Kal­ten Krieg, Rüs­tungs­wett­lauf, unge­sühn­te Kriegs- und Nazi-Ver­bre­chen – für die­se Gene­ra­ti­on hat­ten und haben die Singer/Songwriter eine Bedeu­tung, die weit über die Musik hinausgeht.

Ein Bei­spiel für das, was den jun­gen Erhard Krull in die­sen Jah­ren aus­mach­te und was ihn beweg­te, zeigt eine Epi­so­de aus dem Som­mer 1976: Sei­ner­zeit mach­te der ehe­ma­li­ge Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt eine mehr­tä­gi­ge Wan­de­rung durch den Teu­to­bur­ger Wald. Was heu­te allen­falls als eine poli­ti­sche Wer­be­tour beach­tet wür­de, hat­te damals noch eine ande­re Bedeutung.

Obwohl er bereits wegen der Guil­laume-Affä­re zurück­ge­tre­ten war, galt Brandt vie­len, vor allem jun­gen Men­schen, noch immer als ent­schei­den­de Sym­bol­fi­gur für Frie­den, für „mehr Demo­kra­tie“ und gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung. Es klingt des­halb nur kon­se­quent, wenn Erhard sich als dama­li­ger Gym­na­si­ast in Oer­ling­hau­sen aus der Schu­le schlich, um heim­lich an einer Ver­an­stal­tung mit Brandt teil­zu­neh­men, als die­ser durch die Stadt wanderte.

Dies ist aber nur der unbe­deu­ten­de Teil die­ser Geschich­te. Wirk­lich beson­ders wird sie, wenn man weiß, dass die Oer­ling­hau­ser Jun­ge Uni­on eine Demons­tra­ti­on gegen Brandt orga­ni­siert hat­te. Sie reih­te sich damit ein in das Stim­mungs­bild der dama­li­gen Bun­des­re­pu­blik, in dem alte und neue Nazis, CDU-Mit­glie­der und ande­re Brandt über Jahr­zehn­te  als „Vater­lands­ver­rä­ter“ ver­leum­de­ten, weil die­ser als poli­tisch Ver­folg­ter wäh­rend der NS-Zeit nach Nor­we­gen geflüch­tet war, weil er dort im Wider­stand gegen Nazi-Deutsch­land arbei­te­te und weil er nach 1945 sei­nen Tarn­na­men Wil­ly Brandt bei­be­hal­ten hatte.

Der damals 19-jäh­ri­ge Schü­ler Erhard Krull stell­te sich also demons­tra­tiv gegen sol­che schmut­zi­gen Machen­schaf­ten. Ihm war es wich­tig, auf der rich­ti­gen Sei­te dabei zu sein. Das erfor­der­te Mut, denn dafür erhielt er weni­ge Wochen vor sei­ner Abitur­prü­fung einen schrift­li­chen Tadel von sei­ner Schul­lei­tung. Ein Tadel, der eigent­lich eine Ehren­er­klä­rung war, für die ihn zuhau­se aber sehr viel Unan­ge­neh­me­res erwar­te­te, als nur Ärger in Worten.

Wer Erhard kann­te, wird von sol­cher Kon­se­quenz nicht wirk­lich über­rascht sein. Auch nicht davon, dass er selbst so gut wie nie über die­se Geschich­te gespro­chen hat.

Erhard wur­de 1956 in Hörs­te gebo­ren. Er ist in Wäh­ren­trup auf­ge­wach­sen. Das klingt nicht nur nach lip­pi­scher Pro­vinz. Im Schat­ten des Teu­to­bur­ger Wal­des ist Lip­pe länd­lich. Dies ist kei­ne Gegend für intel­lek­tu­el­le Höhen­flü­ge. Hier wur­den auch nie vie­le Wor­te gemacht und es konn­te schon mal etwas gro­ber zuge­hen, manch­mal auch bru­tal. In der Schu­le und auch in man­chem Elternhaus.

Bis in die 1970er Jah­re gab es hier an etli­chen Bau­ern­hö­fen noch groß­for­ma­ti­ge Email­le­schil­der, die mit der Auf­schrift „Drei­ge­teilt nie­mals“ auch ein Vier­tel­jahr­hun­dert nach dem ver­lo­re­nen Welt­krieg noch immer den Anspruch auf das Deutsch­land in den Gren­zen von 1937 erhoben.

Sol­che Din­ge muss­ten einen wie Erhard her­aus­for­dern. Er war von Jugend an ein zutiefst poli­ti­scher Mensch. Für ihn und sei­nen Bru­der Jür­gen war es ein Glück, dass es neben sol­chem kon­ser­va­ti­ven, manch­mal auch reak­tio­nä­ren Umfeld, auch einen sehr ver­ständ­nis- und lie­be­vol­len Groß­va­ter gab. Einen Mann, der vor 1933 als Sozi­al­de­mo­krat in Lip­pe noch gegen den Auf­stieg der Nazis gekämpft hat­te. Und außer­dem gab es in der Fami­lie noch die Geschich­te des Groß­on­kels Fritz Bock­horst, der als Nazi-Geg­ner unter unge­klär­ten Umstän­den in der Gesta­po­haft ums Leben kam.

Bei all dem ver­ach­te­te Erhard nichts mehr als poli­ti­sche Kum­pa­nei, Kun­ge­lei und Macht­spie­le. Poli­tik war für ihn Mit­tel zum Zweck und der Zweck war, dass es allen Men­schen gut gehen möge. Ein­fach zuse­hen, wenn Men­schen lit­ten, wenn Unrecht geschah, das hielt er nicht aus.

Wenn man sich mit Erhard unter­hielt und dabei auf irgend­ei­ne Not oder ein Unrecht zu spre­chen kam, dann gin­gen sofort immer alle Lam­pen an. Sol­che Gesprä­che waren nicht denk­bar, ohne dass ihm sofort eine Mög­lich­keit ein­fiel, irgend­wo noch eini­ge hun­dert Euro zu orga­ni­sie­ren, um spon­tan zu helfen.

Irgend­wen kann­te er immer, den er noch wegen Hil­fe und Unter­stüt­zung anspre­chen konn­te. Und selbst dabei schaff­te er es immer noch, zusätz­lich um ein paar Ecken mehr zu den­ken, um auch noch Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge oder jugend­li­che Straf­ge­fan­ge­ne in sei­ne Hilfs­pro­jek­te einzubinden.

Wenn er von irgend­wo­her um Hil­fe gebe­ten wur­de und es an Geld fehl­te, dann hielt er eben irgend­wo einen oder meh­re­re Vor­trä­ge über sei­ne Rei­sen oder sei­ne Pro­jek­te. Bei sol­chen Gele­gen­hei­ten stell­te er dann ein Spar­schwein auf, um für eine spe­zi­el­le medi­zi­ni­sche Behand­lung in Tan­sa­nia, für ein Wai­sen­haus in der Nähe von Kali­nin­grad, oder auch „nur“ für sei­nen Ver­ein Rad & Tat e.V. zu sammeln.

Ein Mensch, der in so vie­len Töp­fen rührt, über den wird gere­det. Und sei­en wir ehr­lich: Lei­der nicht immer nur gut. Erhard war sich des­sen bewusst. Er hat es hin­ge­nom­men, wenn ein­zel­ne Kol­le­gen oder ande­re ihn und sei­ne Akti­vi­tä­ten als etwas schräg, viel­leicht sogar als etwas spin­nert belächelten.

Wirk­lich getrof­fen hat es ihn, wenn es ein­zel­ne Miss­güns­ti­ge gab, die ihm unter­stell­ten, er wol­le sich nur wich­tig machen und sei­nen Namen in der Pres­se sehen. Sol­che Gemein­hei­ten konn­ten ihm sehr lan­ge nach­ge­hen, denn Erhard mag vie­les gewe­sen sein: Eitel war er eher zu wenig und ein Selbst­dar­stel­ler war er ganz sicher nie!

Für Erhard gehör­te immer alles zusam­men. Er lieb­te Men­schen, beson­ders jene, die der Hil­fe bedurf­ten. Er konn­te gar nicht anders. Erhard brach­te Men­schen zusam­men, um zu hel­fen und um mit ihnen zusam­men zu sein. Wo er war, da men­schel­te es. Immer. Da war es immer auch ein wenig bunt und warm. Er brauch­te kei­ne pathe­ti­schen Reden.

Aber es wür­de ihm nicht gerecht, ihn nur als den uner­müd­li­chen Kämp­fer mit dem gro­ßen Her­zen zu sehen. Wenn er etwas anzet­tel­te, dann tat er das immer auch, weil er eine tie­fe Sehn­sucht danach hat­te, Teil eines Gan­zen zu sein.

Er war „ein­zeln und frei“, wie es der von ihm ver­ehr­te Han­nes Wader in einem Lied sang. Aber er woll­te immer auch dazu gehö­ren – und geliebt wer­den. Bei ihm gab es immer „die­sen Hun­ger, die­se Gier, nach Schön­heit, Lie­be, nach dem Leben“, wie es in einem ande­ren Wader-Lied heißt.

Wir wis­sen nicht, was ihm durch den Kopf gegan­gen sein mag, wenn er bei sei­nen Spen­den­sam­mel­tou­ren wochen­lang allein auf sei­nem Fahr­rad tau­sen­de Kilo­me­ter durch Euro­pa fuhr. Sol­che Extrem­sport-Pro­jek­te haben ja immer ihre eige­nen Hin­ter­grün­de. Aber wir kön­nen wohl sicher sein, Erhard emp­fand sich durch sei­ne jewei­li­gen sozia­len Pro­jek­te immer mit sehr vie­len Men­schen sehr kon­kret verbunden.

Selbst so allein im Irgend­wo an einem Stra­ßen­rand vor Istam­bul,  St. Peter­burg oder Gibral­tar brauch­te er für sich wohl immer auch das Gefühl, zu etwas Grö­ße­rem zu gehö­ren. Dafür leis­te­te er sei­nen ganz per­sön­li­chen Bei­trag. Nie wäre es ihm dabei in den Sinn gekom­men, die teil­wei­se erheb­li­chen Auf­wen­dun­gen für sei­ne Aus­rüs­tung, Ver­pfle­gung, Über­nach­tun­gen usw. auch nur irgend­wie mit den gesam­mel­ten Spen­den zu „ver­rech­nen“. Und weil das so war, steck­te in jeder sei­ner Aktio­nen zusätz­lich zu allem per­sön­li­chen Herz­blut, sei­nem jewei­li­gen Jah­res­ur­laub und aller Arbeit immer auch noch ein erheb­li­cher mate­ri­el­ler Anteil, der eigent­lich nie wirk­lich gese­hen und auch nie gewür­digt wurde.

Spä­tes­tens an die­ser Stel­le stellt sich die Fra­ge, wie wird eigent­lich so einer, der in kein Sche­ma passt, der eigen ist und alles ande­re, als strom­li­ni­en­för­mig – wie wird so einer über vier Jahr­zehn­te zu einem Beam­ten des Finanz­am­tes für Steu­er­straf­sa­chen und Steu­er­fahn­dung? Einen wie Erhard stellt man sich vor mit wehen­den Haa­ren, in läs­si­ger Cord­ho­se und mit karier­tem Hemd als Leh­rer, sagen wir, für Deutsch und Geschich­te. Einer, den sei­ne Schü­ler lie­ben, weil er ihnen den Kas­par Hau­ser erklärt und die Lei­den des jun­gen Wert­her leben­dig macht.

Und genau das hät­te Erhard wohl eigent­lich wer­den wol­len. Dass er es nicht wur­de, ist wohl nur aus sei­ner ganz per­sön­li­chen Geschich­te zu erklä­ren. Nach dem Abitur hat­te er sich an der Uni Müns­ter für ein Lehr­amts­stu­di­um bewor­ben. Aller­dings war es wegen des dama­li­gen Nume­rus Clau­sus unsi­cher, ob er ange­nom­men wor­den wäre. Also bewarb er sich zusätz­lich bei der Finanz­ver­wal­tung. Die­ser Weg hat­te für ihn zwei Vor­tei­le. In den 1970er Jah­ren war – nicht nur in Lip­pe – noch die aus der Nazi-Zeit über­nom­me­ne Erzie­hungs-Rhe­to­rik ver­brei­tet, Kin­der soll­ten ihren Eltern nicht „auf der Tasche“ lie­gen. Von ihnen wur­de erwar­tet,  mög­lichst bald „eige­nes Geld zu verdienen“.

Umge­kehrt bot die Anstel­lung als Inspek­to­ren­an­wär­ter beim Finanz­amt für Erhard die Mög­lich­keit, sich von zuhau­se unab­hän­gig zu machen. Es ging ihm also nie dar­um, ein­zu­tau­chen, in die Welt der Ärmel­scho­ner- und Schlips­trä­ger. Er such­te eine Mög­lich­keit, „auf eige­nen Bei­nen zu ste­hen.“ Bei die­ser Ent­schei­dung blieb er auch, als er kur­ze Zeit spä­ter doch noch die Zulas­sung für Müns­ter bekam.

Es braucht nicht viel Phan­ta­sie, sich vor­zu­stel­len, dass einer wie Erhard auch kri­ti­sche Bli­cke auf sich zog – sowohl in sei­ner Behör­de als auch im gedie­ge­nen Ambi­en­te wirt­schaft­li­cher Unter­neh­men. Umge­kehrt ist es durch­aus nach­voll­zieh­bar, dass der Steu­er­fahn­der Krull nicht wirk­lich zu beein­dru­cken war, wenn bei­spiels­wei­se ein ost­west­fä­li­scher Fleisch­ba­ron sei­ne Haus­häl­te­rin mit dem Fahr­rad zur Grund­stücks­ein­fahrt schick­te, um den dort war­ten­den Finanz­be­am­ten abzu­ho­len, damit die­ser vor­ab eine Vor­stel­lung der Grö­ße von Besitz, Macht und Ein­fluss bekam, die bei der bevor­ste­hen­den Steu­er­prü­fung berück­sich­tigt wer­den sollten.

Wenn Erhard pri­vat andeu­tungs­wei­se sol­che Din­ge mal durch­bli­cken ließ, war immer zu erken­nen, dass er für sozia­le und Steu­er­ge­rech­tig­keit immer einen kla­ren Kom­pass hat­te. Manch­mal einen kla­re­ren als sein Dienst­herr, der Steuergesetzgeber.

Dabei zeig­te er bis zuletzt immer auch ein gro­ßes Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein. Noch im Sep­tem­ber die­ses Jah­res woll­te er, wäh­rend sei­ner Krebs­the­ra­pie und nach einer gro­ßen Hüft-OP und Reha, noch ein­mal für vier Stun­den täg­lich zurück an sei­nen Arbeits­platz, um den Kol­le­gen kei­nen unbe­ar­bei­te­ten Fall zu hinterlassen.

Vor allem in den letz­ten bei­den Jah­ren, als er wuss­te, es wird ernst, wirk­te es, als woll­te er dem Krebs davon­lau­fen. Und zwi­schen­durch sah es für kur­ze Zeit auch tat­säch­lich immer wie­der mal so aus, als könn­te er die­sem mie­sen Ver­rä­ter tat­säch­lich ein Schnipp­chen schlagen.

Wie ein Schwamm muss er in die­sen zwei Jah­ren ver­sucht haben, schö­ne Bil­der, beson­de­re Orte, außer­ge­wöhn­li­che Erleb­nis­se und die Tref­fen mit Men­schen auf­zu­sau­gen. Jeweils zwi­schen sei­nen teil­wei­se sehr belas­ten­den Krebs­be­hand­lun­gen reih­ten sich da Rei­sen nach Tan­sa­nia, Marok­ko, Tscher­no­byl, Ita­li­en, Mal­lor­ca, Irland, die deut­sche Ost­see­küs­te, dazu zwei­mal Öster­reich, mehr­fach Polen und der Besuch ver­schie­de­ner euro­päi­scher Weih­nachts­märk­te anein­an­der. Auch jetzt, wäh­rend wir uns hier von ihm ver­ab­schie­den, woll­te er eigent­lich den Weih­nachts­markt in Stet­tin besuchen.

Nicht zu ver­ges­sen, in all die­ser Zeit war er immer wie­der und auch sehr inten­siv für uns da, für sei­ne Fami­lie und sei­ne Freun­din­nen und Freunde.

(…)

Wohl Anfang Okto­ber schrieb er auf sei­ner Inter­net­sei­te mit dem schö­nen Namen Regen­bo­gen­jim­my sei­nen letz­ten Ein­trag. Er lau­tet: „Aus gesund­heit­li­chen Grün­den wird es wohl kei­ne Rei­se mehr geben. An Texel über den Jah­res­wech­sel  kann ich nicht mehr glau­ben. Vie­le Urlaubs­wün­sche blei­ben uner­füllt. Ich hat­te aller­dings ein erfüll­tes Leben.“

Ja, Du Guter, das hat­test Du wohl. Du hast etwas dar­aus gemacht.

Jetzt ist – um in Dei­nem Bild zu blei­ben – der Jim­my über den Regen­bo­gen gegan­gen. Wie wir Dich ken­nen, bist Du aber ver­mut­lich wohl dar­über gera­delt. Ganz sicher hast Du vie­le Din­ge bewegt. Viel mehr, als man­che Men­schen über­haupt für mög­lich hal­ten. Vor allem hast Du dabei Her­zen erreicht und Spu­ren hin­ter­las­sen. Auch, aber nicht nur im Her­for­der Stadtbild.

Für sehr vie­le Men­schen gibt es unglaub­lich vie­le Orte, an denen sie immer wie­der an Dich erin­nert wer­den. Weil sie dort mit Dir geses­sen, gere­det und geträumt haben – manch­mal sogar die Welt ein klein wenig ange­neh­mer und wär­mer machen durften.

Dan­ke, Erhard, mögest Du lächeln und Dei­ne Ruhe fin­den. Du hast es verdient.

Dan­ke, dass es Dich für uns gab.

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Extra-News­let­ter 04/2021:

Online-Ver­an­stal­tung der Volks­hoch­schu­le Herford:
Her­ford rund­um — Eine bild­li­che Füh­rung durch die Stadt vor hun­dert Jahren
Diens­tag, 20. April 2021, Beginn: 19 Uhr,
Refe­rent: Die­ter Begemann

Stel­len Sie sich vor, Sie ste­hen auf einem erhöh­ten Aus­sichts­punkt über Her­ford und sehen rund­um auf die Stadt, wie sie vor hun­dert Jah­ren war. — Das geht nicht, sagen Sie? Doch, das ist mög­lich — mit einer klei­nen tech­ni­schen Hil­fe und sogar von zuhau­se aus. Dann aber auch mit lang­sa­men Schwenks über (fast) das gesam­te Stadt­bild und mit der Mög­lich­keit, Details her­an zu »zoo­men«. Mit dem Blick auf alte Stadt­tei­le, auf Fabrik­schorn­stei­ne, in Hin­ter­hö­fe, Gär­ten und vie­les mehr …

Sie benö­ti­gen einen PC/Laptop oder ein mobi­les End­ge­rät mit einem Internetanschluss.
Anmel­dung mög­lichst bis zum 19.04.2021.

Kurs­ge­bühr: 8 Euro

Anmel­dung und wei­te­re Details fin­den Sie auf den Sei­ten der VHS Her­ford unter:
https://vhsimkreisherford.de/kurse/politik-gesellschaft-geschichte/kurs/Herford+rundum+-+Eine+bildliche+Fuehrung+durch+die+Stadt+vor+hundert+Jahren/nr/20–16401/bereich/details/kat/10/#inhalt

Die Geschich­te hin­ter der Geschichte:
Anfang der 1920er Jah­re pro­bier­te der Her­for­der Karl Arnold etwas, das nicht nur für einen 17-jäh­ri­gen Lehr­ling des Pho­to­gra­phen­hand­werks, wie er es damals war, eine beson­de­re Her­aus­for­de­rung dar­stell­te. Mit einer soge­nann­ten Rei­se­ka­me­ra, einem Holz­ge­stell von der Grö­ße eines Rei­se­kof­fers, bestieg er an einem Som­mer­tag den Turm der Stift­ber­ger Kir­che. Mit gro­ßem Auf­wand mach­te er von dort ins­ge­samt acht Glas­plat­ten­auf­nah­men sei­ner Hei­mat­stadt, die er spä­ter zu einem lan­gen Pan­ora­ma­bild zusammenfügte.

Aus uner­klär­li­chen Grün­den geriet Arnolds außer­ge­wöhn­li­che Arbeit in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten in Ver­ges­sen­heit. Das Pan­ora­ma wur­de zer­stört, ein wich­ti­ger Teil ver­schwand sogar schein­bar spur­los. Erst Anfang der 2000er Jah­re erkann­te der dama­li­ge Stadt­ar­chi­var Die­ter Bege­mann die Bedeu­tung der erhal­te­nen Frag­men­te. Es gelang ihm auch, den ver­schwun­de­nen Haupt­teil aus­fin­dig zu machen, um dann das gesam­te Pan­ora­ma am Com­pu­ter zu rekon­stru­ie­ren. So ent­stand ein rie­si­ges Foto, das mit der Bild­hö­he eines DIN-A4-Blat­tes eine Gesamt­brei­te von mehr als vier Metern erreichte.

Die beson­de­re Bild­qua­li­tät erlaubt einen abso­lut außer­ge­wöhn­li­chen Blick in eine ver­gan­ge­ne Welt. Wie bei einer Kame­ra­fahrt ist zu erken­nen, was Arnold vor hun­dert Jah­ren bei sei­nem Rund­um-Blick vom Stift­berg sah. Eine Stadt im Auf­bruch, mit Fabrik­schorn­stei­nen, neu ent­ste­hen­den Stadt­tei­len, Bli­cken in Hin­ter­hö­fe, Gär­ten und vie­les mehr — immer wie­der auch mit der Mög­lich­keit, Details her­an zu “zoo­men”.

Gera­de die­se beson­de­re Art der Quel­le scheint für eine Online-Ver­an­stal­tung über Her­ford in den 1920er Jah­ren beson­ders geeig­net, um inhalt­li­chen Vor­trag und Bil­der wie in einem Film mit­ein­an­der zu verbinden.

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Geschichte(n) zum Hinhören

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Von der Idee zum ersten Podcast

… wo die Ideen ler­nen, zu fliegen.

Die »Spu­ren­su­che« auf www.dieter-begemann.de war bis­her eine rein opti­sche Ange­le­gen­heit mit Tex­ten und Bil­dern. Eigent­lich soll­te das auch noch eine gan­ze Wei­le so blei­ben. Ich fand den Gedan­ken zwar reiz­voll, mei­ne Geschich­ten irgend­wann nicht mehr nur in les­ba­rer Form zu ver­öf­fent­li­chen, son­dern sie auch hör­bar zu machen. Aber das hat­te für mich kei­ne Eile.

Dann kam – wie so oft – das »rich­ti­ge Leben« dazwi­schen. Dar­aus ent­stand die Idee zum ers­ten Pod­cast. Wie das genau geschah, ver­rät dieses 

MAKING OF … Pod­cast 1

 

Die »Spu­ren­su­che für Ohren­zeu­gen« schafft neue Mög­lich­kei­ten. Die­se dür­fen sicher nicht über­be­wer­tet wer­den, aber sie kön­nen hel­fen, Geschich­te neu und anders zu prä­sen­tie­ren. Sie sind kein Selbst­zweck, aber sie kön­nen ein gutes Medi­um sein, um mehr Men­schen zu errei­chen und die Mög­lich­kei­ten für die his­to­ri­sche Spu­ren­su­che, zu erweitern. 

»Spurensuche für Ohrenzeugen« heißt für mich erst einmal:
  • Die Pod­casts sind kostenlos.
  • Die ein­zel­nen Fol­gen erschei­nen in unre­gel­mä­ßi­gen Abständen.
  • Sie kön­nen auf die­ser Sei­te abon­niert und auch her­un­ter­ge­la­den wer­den. Zusätz­lich wer­den sie auch bei i‑tunes, Spo­ti­fy und you­tube eingestellt.
  • Die Pod­casts sind lizen­siert nach den Crea­ti­ve-Com­mons-Regeln und ent­spre­chend urhe­ber­recht­lich geschützt.

Alles Ande­re wird sich ent­wi­ckeln. Ich lade sehr herz­lich dazu ein, mög­lichst vie­le Men­schen auf die »Spu­ren­su­che für Ohren­zeu­gen« auf­merk­sam zu machen. Und natür­lich freue ich mich sehr über Mei­nun­gen, Anre­gun­gen und Kritik.

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Viel mehr als nur die Frau »an seiner Seite«. Eine Erinnerung an Henny Ploeger

Manu­skript der Gedenk­an­spra­che als PDF-Datei her­un­ter­la­den.

Textfassung (mit Abbildungen):

Der nach­fol­gen­de Bei­trag ist kei­ne Stu­dio­auf­nah­me. Es han­delt sich um den Ori­gi­nal­mit­schnitt einer Gedenk­an­spra­che, die ich am 15. Sep­tem­ber 2020 an den Grä­bern von Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger auf dem Fried­hof »Ewi­ger Frie­den« in Her­ford gehal­ten habe. Klei­ne­re tech­ni­sche Män­gel sind der beson­de­ren Situa­ti­on einer Auf­nah­me mit beschei­de­nen Mit­teln auf dem Fried­hof geschuldet.

Der Grab­stein für den Her­for­der Schlos­ser Hei­ko Ploe­ger ver­mit­telt — ein wenig zu groß und etwas auf­fäl­lig geformt — den Ein­druck, es han­de­le sich um das Ein­zel­grab eines Opfers des Nazi-Regimes. Tat­säch­lich sind hier jedoch zwei Men­schen beigesetzt.

Geschicht­li­che Erin­ne­rung und das Geden­ken an ver­gan­ge­ne Ereig­nis­se funk­tio­niert nach Geset­zen, die manch­mal selt­sam erschei­nen. Für die meis­ten Men­schen, die regel­mä­ßig an einem 15. Sep­tem­ber, dem Todes­tag von Hei­ko Ploe­ger, sein Grab besu­chen, ist das Geden­ken sicher­lich immer ver­bun­den mit war­men Spät­som­mer­ta­gen. Je spä­ter die Nach­mit­ta­ge dann wer­den, des­to röt­li­cher und wär­mer wird auch das Son­nen­licht, das auf einen etwas zu groß dimen­sio­nier­ten und auch etwas unge­wöhn­lich geform­ten Grab­stein trifft. Die­se Sze­ne­rie schafft immer auch eine beson­de­re Stim­mung.Die Inschrift des Steins lau­tet: Er starb für Wahr­heit, Frei­heit, Recht. Hier soll an jeman­den erin­nert wer­den, der für etwas Gutes gestor­ben ist, so als hät­te er das gewollt. An ein Opfer.

Das Gefühl des Spät­som­mers, auch die mit dem Pathos ihrer Zeit bela­de­nen Wor­te, prä­gen ein Bild für die Über­le­ben­den und für die Nach­ge­bo­re­nen. Was wir mit einer Geschich­te ver­bin­den und die rea­len Ereig­nis­se pas­sen manch­mal über­haupt nicht zusammen.

Um zu ver­ste­hen, was da geschieht und was dahin­ter steht, scheint es sinn­voll, noch ein­mal zurück zu gehen an den Anfang.

Wäh­rend der Gedenk­an­spra­che am 15. Sep­tem­ber 2020.
Foto: Niklas Gohrbandt

Hei­ko Ploe­ger wur­de am 12. Janu­ar 1946 hier bei­gesetzt. Heu­te unvor­stell­bar, hat­ten damals Kom­mu­nis­ten und Sozi­al­de­mo­kra­ten gemein­sam zur Teil­nah­me an die­ser Bei­set­zung auf­ge­ru­fen. Auf einem Flug­blatt von KPD und SPD in Her­ford hieß es: „Wir sind es dem Ermor­de­ten schul­dig, durch eine Mas­sen­be­tei­li­gung aller schaf­fen­den, anti­fa­schis­ti­schen Her­for­der aus Stadt und Land ihm die Ehre zuteil wer­den zu las­sen, die die­sem tap­fe­ren Kämp­fer gebührt.“

Man spürt es, hier ist acht Mona­te nach dem Kriegs­en­de deut­lich der Wunsch da, die Spal­tung der Arbei­ter­be­we­gung zu über­win­den, die vor 1933 den Auf­stieg der Nazis begüns­tigt hat­te. Fast könn­te man sagen, für Her­ford war die­se Bei­set­zung ein gesell­schaft­li­ches Ereig­nis. Das städ­ti­sche Orches­ter spiel­te, es sang der Volks­chor. Meh­re­re hun­dert Men­schen waren an die­sem Sams­tag­nach­mit­tag gekom­men, die gro­ße Mehr­zahl zu Fuß. Es galt noch die Sechs-Tage-Woche, das heißt, die meis­ten hat­ten noch bis zum Mit­tag arbei­ten müs­sen. Jetzt stan­den sie frie­rend auf der gro­ßen Frei­flä­che am Ein­gang des Fried­ho­fes, wo die Gedenk­fei­er statt­fand. Nach meh­re­ren Frost­ta­gen zuvor, reg­ne­te es bereits die gan­ze Woche.

Als Wal­traud Schlü­ter, die Nich­te von Hei­kos Ehe­frau Hen­ny Ploe­ger mit ihrer Mut­ter dort ein­traf, waren sie für einen Moment fas­sungs­los. Dort stan­den tat­säch­lich zwei Sär­ge auf­ge­bahrt. Bei­den sah man an, dass sie bereits in der Erde gewe­sen waren. Eines war der Sarg Hei­ko Ploe­gers, in dem er nach sei­ner Hin­rich­tung im Sep­tem­ber 1944 auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof beer­digt wor­den war. Er war am Tag zuvor mit den Sär­gen von 11 wei­te­ren dort hin­ge­rich­te­ten Bie­le­fel­der Arbei­tern aus Dort­mund nach Ost­west­fa­len geschafft wor­den. Die ermor­de­ten Bie­le­fel­der wur­den in einem Ehren­feld auf dem Senne­fried­hof beigesetzt.

Auf dem »Ehren­feld« des Bie­le­fel­der Senne­fried­hofs wur­den, eben­falls am 12. Janu­ar 1946, 11 Arbei­ter bei­gesetzt, die, wie Hei­ko Ploe­ger, im Sep­tem­ber 1944 in Dort­mund hin­ge­rich­tet wor­den waren. Nach ihrer Ermo­dung waren sie zunächst auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof beer­digt wor­den, nach Zeit­zeu­gen­aus­sa­gen, „an der Fried­hofs­he­cke ver­scharrt.“ Im Janu­ar 1946 wur­den die Toten für eine wür­di­ge Bestat­tung nach Bie­le­feld und Her­ford über­führt.

Dafür, dass Hei­ko Ploe­ger zurück nach Her­ford kam, hat­te ent­schei­dend Wil­helm Oster­ha­gen gesorgt, ein direk­ter Nach­bar der Ploe­gers in der Her­for­der Johan­nis­stra­ße. Er hat­te einen LKW mit Holz­ver­ga­ser besorgt, um den Leich­nam sei­nes Nach­barn aus Bie­le­feld zu holen. Am Mor­gen der Bei­set­zung war er mit dem­sel­ben LKW nach Osna­brück gefah­ren, um Hei­ko Ploe­gers dort leben­de  Eltern zu holen, damit sie an der Bei­set­zung teil­neh­men konnten.

Oster­ha­gen kann­te das Schick­sal der Ploe­gers nur zu gut. Er war KPD-Mit­glied. In den Anfangs­jah­ren der Nazi­herr­schaft hat­te er mit sei­nem Sohn Wil­ly heim­lich Flug­blät­ter gegen das Regime ver­teilt. Es spricht vie­les dafür, dass auch Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger an die­sen Aktio­nen betei­ligt waren. Der jun­ge Wil­ly Oster­ha­gen wur­de spä­ter 999er, das heißt er kam als poli­tisch »Unzu­ver­läs­si­ger« in ein poli­ti­sches Straf­ba­tail­lon. Er über­leb­te es nicht. Sei­ne Mut­ter ging an dem Kum­mer über den Tod ihres Soh­nes zugrun­de. Sie starb inner­halb weni­ger Mona­te danach.

Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger im Gar­ten­haus sei­ner Eltern in Osna­brück. Die Auf­nah­me stammt ver­mut­lich aus dem Jahr 1943.

Der zwei­te Sarg, der am 12. Janu­ar 1946 neben Hei­ko Ploe­ger auf­ge­bahrt war, gehör­te sei­ner Ehe­frau Hen­ny. Auch sie war ein hal­bes Jahr nach der Ermor­dung ihres Man­nes gestor­ben und in einem Ein­zel­grab auf dem Ewi­gen Frie­den bei­gesetzt wor­den. Nun war es offen­sicht­lich ihr Nach­bar Wil­helm Oster­ha­gen, der dafür sorg­te, dass die bei­den neben­ein­an­der beer­digt wer­den konnten.

Etwas ket­ze­risch gesagt, geriet Hen­ny Ploe­ger nun in die Rol­le, die Frau­en ihrer Gene­ra­ti­on all­ge­mein zuge­dacht wur­de. Nach außen stand ihr Mann im Vor­der­grund. Sie war die Frau »an sei­ner Sei­te«, immer da, immer unauf­fäl­lig, immer still. Auch für Hei­ko Ploe­ger war es – nach allem, was wir über ihn wis­sen – durch­aus nor­mal, wenn sie einen Pull­over für ihn strick­te oder ihm sei­ne Kan­ne Frie­sen­tee koch­te. Aber die Für­sorg­lich­keit der bei­den war wohl gegen­sei­tig. Offen­bar lieb­ten sie sich als Paar wirk­lich und begeg­ne­ten ein­an­der auf Augen­hö­he. Nichts spricht dafür, dass er sie hin­ter sich ver­deckt wis­sen woll­te, oder gar vergessen.

Wer also war die­se Frau, die hier seit 74 Jah­ren weit­ge­hend unbe­ach­tet begra­ben liegt?

Die Ant­wort beginnt wie­der mit ihrem Mann. Am 18. Janu­ar 1944 wur­de er ver­haf­tet. Ein grö­ße­res Roll­kom­man­do unter den Bie­le­fel­der Gesta­po-Beam­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mei­er war an sei­nem Arbeits­platz in der soge­nann­ten Kano­nen­fa­brik der Fir­ma Dür­kopp in Kün­se­beck bei Hal­le auf­ge­taucht. Die Ver­haf­tungs­ak­ti­on rich­te­te sich gegen Ploe­ger und min­des­tens sechs wei­te­re Kollegen.

Aber hier wur­den kei­ne poli­ti­schen Heiß­spor­ne in Hand­schel­len gelegt. Abtrans­por­tiert wur­den 45- bis 55-jäh­ri­ge Ehe­män­ner und Fami­li­en­vä­ter. Fach­ar­bei­ter, die eigent­lich uner­setz­lich waren. Für sie gab es einen dra­ma­ti­schen Man­gel. Die Ver­haf­tung einer sol­chen Grup­pe aus der lau­fen­den Pro­duk­ti­on war eine Machtdemonstration.

Ohne die Zustim­mung und Mit­wir­kung der Unter­neh­mens­lei­tung war sie undenk­bar. Zu erklä­ren nur, weil es Män­ner waren, die in den Rauch­pau­sen  regel­mä­ßig die Köp­fe zusam­men­steck­ten. Rüs­tungs­ar­bei­ter, die sich gegen­sei­tig über die Kriegs­la­ge infor­mier­ten und die es immer häu­fi­ger wag­ten, das Ende der NS-Herr­schaft nicht nur für mög­lich, son­dern für wahr­schein­lich zu hal­ten – ja, sogar über ein bes­se­res Deutsch­land danach nachzudenken.

Wir dür­fen davon aus­ge­hen, dass sich die Nach­richt über die Ver­haf­tun­gen wie ein Lauf­feu­er im Unter­neh­men ver­brei­te­te. Die Gefan­ge­nen wur­den nach Bie­le­feld gebracht ins Poli­zei­ge­fäng­nis in der Tur­ner­stra­ße. Die dama­li­gen tech­ni­schen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten lie­ßen es als weit­ge­hend aus­ge­schlos­sen erschei­nen, dass Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge und ande­re von der Akti­on erfuh­ren. Die Gesta­po-Beam­ten hat­ten Zeit, nun die Durch­su­chung der Woh­nun­gen der Ver­haf­te­ten und die Ver­neh­mun­gen ihrer Ange­hö­ri­gen vorzubereiten.

Der 18. Janu­ar 1944 war ein Diens­tag. Als Hen­ny Ploe­ger an die­sem Abend wie­der in ihrer Woh­nung in der Her­for­der Johan­nis­stra­ße ein­traf, kam sie von einem 10-Stun­den-Arbeits­tag. Sie arbei­te­te im Her­for­der Beklei­dungs­un­ter­neh­men Tofoh­te. Beklei­dung, das hieß in den Jah­ren des tota­len Krie­ges, Uni­for­men und Mili­tär­män­tel. Min­des­tens sech­zig Stun­den an sechs Tagen in der Woche.

Drau­ßen war es längst dun­kel und unge­müt­lich, nass­kalt, um null Grad. Es fällt nicht schwer, sich vor­zu­stel­len, wie sie sich dar­auf freu­te, den Koh­le­herd in ihrer aus­ge­kühl­ten Wohn­kü­che wie­der anzu­hei­zen. Auch sich selbst mit einem Getränk auf­zu­wär­men. Bis sie den Tee für Ihren Hei­ko auf­set­zen konn­te, wür­de es wohl noch etwas dau­ern. Er kam mit der Bahn aus Kün­se­beck und muss­te in Brack­we­de umsteigen.

An Sonn­ta­gen leis­te­te sich Hen­ny Ploe­ger den beschei­de­nen Luxus von ech­tem Boh­nen­kaf­fee. Ein vier­tel Pfund davon durf­te Nich­te Wal­traud etwa alle zwei Wochen für ihre Tan­te ein­kau­fen. Sie mach­te das nur zu ger­ne, denn meis­tens konn­te sie dann sonn­tags auch die Hand­kur­bel der Kaf­fee­müh­le drehen.

Eine der weni­gen Auf­nah­men Hen­ny Ploe­gers, ver­mut­lich auf­ge­nom­men von Hei­ko Ploe­ger im dama­li­gen Obst­mus­ter­gar­ten in Herford. 

Wie in den Haus­hal­ten der klei­nen Leu­te üblich, wur­de auch bei den Ploe­gers der Prütt, also der Kaf­fee­satz, nicht weg­ge­wor­fen. Was sonn­tags übrig­blieb, wur­de auf­be­wahrt, um wochen­tags zum „Zwei­ten Auf­guss“ zu wer­den, meis­tens mit etwas Ersatz­kaf­fee ange­rei­chert, der im Volks­mund „Mucke­fuck“ oder Blüm­chen­kaf­fee genannt wur­de. Was dann noch übrig­blieb, kam als Dün­ger an die Kak­teen, die Hei­ko Ploe­ger auf dem Fens­ter­brett züchtete.

Ich erwäh­ne die­se Din­ge nicht, um eine nai­ve Nost­al­gie der Klei­nen Leu­te zu pfle­gen. Sol­che Din­ge erschei­nen mir wich­tig, weil unser heu­ti­ges Bild von Ver­fol­gung und Wider­stand viel zu häu­fig geprägt ist von Hol­ly­wood-Scha­blo­nen, in denen stahl­har­te Män­ner mit mar­kan­ten Gesichts­zü­gen und fus­sel­frei­en Uni­for­men immer kon­se­quent ihren Weg gehen.

Ein Tom Crui­se mit Stauf­fen­berg-Augen­klap­pe, muss in »Ope­ra­ti­on Wal­kü­re« natür­lich nie hei­zen, auch nie Koh­len schlep­pen. Wenn er sich auf etwas freu­te, dann war es ganz sicher nie eine war­me Tas­se zwei­ter Auf­guss mit Mucke­fuck zum Fei­er­abend. Dass die Ploe­gers bis jetzt über­lebt hat­ten, ver­dank­ten sie sicher auch der Tat­sa­che, dass sie nicht nach einem Hol­ly­wood-Sche­ma leb­ten. Men­schen, die tat­säch­lich im NS-Staat über­le­ben woll­te, die muss­ten sie sich ver­hal­ten, als leb­ten sie in Feindesland.

Aber zurück zum 18. Janu­ar 1944 in der Johan­nis­stra­ße. Wir dür­fen davon aus­ge­hen, dass die Gesta­po­be­am­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mei­er vor einer völ­lig über­rasch­ten, wahr­schein­lich auch fas­sungs­lo­sen Hen­ny Ploe­ger stan­den, als sie in ihren Klep­per-Män­teln bei ihr schell­ten. Ver­mut­lich hat­te sie auch Angst. Ob sie das gezeigt hat, wis­sen wir nicht. Wie es in ihr aus­ge­se­hen haben mag, als sie von der Ver­haf­tung ihres Man­nes hör­te, kön­nen wir uns wohl kaum vorstellen.

Es gibt kei­ne Aus­sa­gen oder Doku­men­te über den Ver­lauf die­ser Haus­durch­su­chung. Alle Unter­la­gen von Gesta­po und Staats­an­walt­schaft zu die­sem Ver­fah­ren wur­den 1945 ver­nich­tet. Ver­mut­lich führ­te Reth­mei­er das Beschlag­nah­me­pro­to­koll für die Ermitt­lungs­ak­ten, wäh­rend Karl Kauf­mann dro­hend und pol­ternd durch die Woh­nung zog. Von ande­ren Aktio­nen ist bekannt, dass die bei­den immer wie­der im Stil von »Good Cop – Bad Cop« vor­gin­gen. Es ging dar­um, ihre Opfer mit einer Mischung aus wüs­ten Dro­hun­gen und ver­meint­li­cher Freund­lich­keit gefü­gig zu machen. Mit Sicher­heit beschlag­nahm­ten sie die Radio­an­la­ge der Ploe­gers, gewis­ser­ma­ßen das Beweis­stück für die ver­meint­li­chen Rund­funk­ver­bre­chen, das Abhö­ren der soge­nann­ten Feindsender.

Denk­bar ist, dass sie auch Hei­ko Ploe­gers Exem­plar des Romans „Im Wes­ten nichts Neu­es“ fan­den. Er hat­te es 1928/29 in der Gewerk­schafts-Buch­hand­lung im Her­for­der Volks­haus am Alten Markt gekauft. Kurz zuvor hat­ten Hen­ny und er gehei­ra­tet. Das Buch mar­kier­te gewis­ser­ma­ßen sei­nen Zugang zur Arbei­ter­be­we­gung, den er mit ihr und ihrer Fami­lie gefun­den hat­te: Volks­haus, das bedeu­te­te für ihn Metall­ar­bei­ter­ge­werk­schaft, Buch­hand­lung, der Kon­sum­ver­ein, Arbei­ter-Schach-Club, Arbei­ter-Radio-Bund, dazu die SPD, die sich damals noch vor­nehm­lich als Par­tei der arbei­ten­den Men­schen ver­stand. Das war ein­mal eine eige­ne Kul­tur, eine eige­ne Welt gewe­sen. Remar­ques Roman gehör­te 1933 zu den offi­zi­ell ver­brann­ten Büchern.

Wir dür­fen sicher sein, dass Hen­ny Ploe­ger bei der Durch­su­chung ver­nom­men wur­de. Ver­haf­tet wur­de sie nicht. Das spricht dafür, dass sich die Akti­on haupt­säch­lich gegen die Dür­kopp-Arbei­ter richtete.

Ganz sicher wird Hen­ny Ploe­ger von Kauf­mann und Reth­mei­er gewarnt wor­den sein, mit ande­ren über die Details der Ver­haf­tung ihres Hei­ko zu spre­chen. Mit wem sie sprach und was sie dabei sag­te, ist nicht bekannt. Viel­leicht ist dies auch ein Hin­weis dar­auf, wie allein und auf sich gestellt sie ab die­sem Zeit­punkt war.

Sicher­lich konn­te sie mit ihren Eltern reden, die gut 150 Meter ent­fernt in der Tri­ben­stra­ße leb­ten. Ein ande­rer Ansprech­part­ner war ver­mut­lich der Nach­bar Wil­helm Oster­ha­gen. Er hat­te poli­ti­sche Ver­fol­gung selbst erlebt und ver­mut­lich noch Kon­takt zu ande­ren »Poli­ti­schen« hat­te. Aber natür­lich bedeu­te­te solch ein Kon­takt Chan­ce und Risi­ko zugleich.

Ver­bin­dung zu Hei­ko Ploe­gers Eltern in Osna­brück war mög­lich, aber schwie­rig. Sie und auch die Ploe­gers hat­ten kei­nen Tele­fon­an­schluss. In sol­chen Fäl­len was es üblich, jeweils in einer Knei­pe in der Nach­bar­schaft anzu­ru­fen und dann eine Anruf­zeit zu ver­ein­ba­ren. Aber die Ver­haf­tung eines Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen aus poli­ti­schen Grün­den war nun mal kein The­ma, um dar­über öffent­lich hör­bar am Tele­fon in einer Knei­pe zu reden.

Aber kein Gespräch, mit wem auch immer, konn­te ihr hel­fen, das zu fin­den, was sie wirk­lich woll­te: wis­sen, wo ihr Hei­ko war, wie es ihm gehen moch­te, wie groß die Gefahr und die Bedro­hung für ihn wirk­lich war, ob sie oder ande­re ihm irgend­wie hel­fen konnten.

 

Bei der Kranz­nie­der­le­gung auf dem Fried­hof Ewi­ger Frie­den am 15. Sep­tem­ber 2020 anläss­lich des Jah­res­ta­ges der Ermor­dung Hei­ko Ploe­gers.
Foto: Niklas Gohrbandt

Kauf­mann und Reth­mei­er wer­den ihr gesagt haben, dass Hei­ko Ploe­ger von jedem Kon­takt zur Außen­welt abge­schlos­sen war, so lan­ge die Gesta­po gegen ihn »ermit­tel­te«. Das bedeu­te­te: kei­ne Besu­che, kei­ne Brie­fe, kei­ne Pake­te. Einen ers­ten Brief von ihm dürf­te sie nach mehr als zwei Mona­ten, in der zwei­ten März­hälf­te bekom­men haben. Ploe­ger befand sich nun im Bie­le­fel­der Gerichtsgefängnis.

Ab jetzt durf­te er ihr alle zwei Wochen sonn­tags einen Brief schrei­ben. Wöchent­lich konn­te er einen Brief von sei­ner Frau erhal­ten. Sie durf­te ihn ab jetzt ein­mal im Monat besu­chen. Aber all die­se Din­ge waren nie ver­bind­lich. Brie­fe waren tage­lang, manch­mal über Wochen unter­wegs. Sie wur­den von der Zen­sur über­prüft. Min­des­tens ein Brief von ihm wur­de dabei »kas­siert«. Das bedeu­te­te, min­des­tens vier Wochen erhielt sei­ne Frau des­halb kein Lebens­zei­chen von ihrem Liebs­ten. Er erhielt den ers­ten Brief von ihr erst nach fast einem Vier­tel­jahr, am 15. April.

Besuchs­ter­mi­ne muss­ten vor­her schrift­lich bean­tragt wer­den. Wur­de sie geneh­migt, bedeu­te­te das jedoch nicht, dass sie auch zustan­de kamen. In min­des­tens zwei Fäl­len reis­te Hen­ny Ploe­ger umsonst nach Bie­le­feld, weil Karl Kauf­mann ihren Mann unan­ge­kün­digt zum Ver­hör ins Gesta­po-Gebäu­de geholt hatte.

Das tat­säch­li­che Aus­maß von Unrecht, Ver­fol­gung, Will­kür, Gemein­hei­ten, Pro­vo­ka­tio­nen war viel grö­ßer, aber schon so wird nach­voll­zieh­bar, dass bei bei­den alle Däm­me bra­chen, als sie sich in der ers­ten Mai­hälf­te, also nach fast vier Mona­ten, tat­säch­lich zum ers­ten Mal wie­der­se­hen konn­ten. In sei­nem nächs­ten Brief an sie schrieb er dar­über: „Du hast wohl einen ordent­li­chen Schreck gekriegt, wie Du mich sahst, und bei mir war die Erre­gung auch zu groß, dann ist man wei­cher, als man will.“

Bei die­sem Ter­min erken­nen sie offen­sicht­lich auch, dass sie bei­de nur noch Schat­ten ihrer selbst sind. Bereits in den ers­ten sie­ben Wochen sei­ner Haft hat­te Hei­ko Ploe­ger zwan­zig Kilo Gewicht ver­lo­ren. Essens­ent­zug gehör­te zu den bevor­zug­ten Fol­ter­me­tho­den der Bie­le­fel­der Gesta­po zur Erpres­sung von Aussagen.

Aber auch Hen­ny Ploe­ger war deut­lich abge­ma­gert. Das lag offen­sicht­lich dar­an, dass sie eine zusätz­li­che Arbeit ange­nom­men hat­te, um einen Rechts­an­walt beauf­tra­gen zu kön­nen. Aller­dings hielt sie dies vor ihrem Mann noch geheim. Spä­ter haben Hei­kos Eltern wohl eini­ges Geld dazu gegeben.

Aber einen Rechts­an­walt zu beauf­tra­gen, bedeu­te­te nicht, dass die­ser auch tätig wur­de. Hen­ny beauf­trag­te einen Bie­le­fel­der Anwalt für den Pro­zess vor dem Ober­lan­des­ge­richt in Hamm. Als die­ser vier­zehn Tage vor dem Pro­zess das Man­dat wegen Krank­heit zurück­gab, muss­te sie ver­su­chen, kurz­fris­tig einen Anwalt aus Hamm zu ver­pflich­ten. Natür­lich ohne dort jeman­den zu kennen

Sol­che Bei­spie­len geben viel­leicht ansatz­wei­se eine gewis­se Idee, wie unend­lich schwie­rig der unglei­che Kampf die­ser klei­nen zier­li­chen Nähe­rin aus Her­ford war gegen die funk­tio­nie­ren­de Büro­kra­tie und Jus­tiz eines Regimes war, das einen Ver­nich­tungs­krieg gegen das eige­ne Volk führte.

Kaum vor­stell­bar, aber es war wohl so, dass Hen­ny und Hei­ko Ploe­ger sich zum letz­ten Mal am 15. August 1944 bei der Ver­kün­dung des Todes­ur­teils im Hamm sahen. Mit­ein­an­der reden konn­ten sie dort nicht mehr. Bis zu sei­ner Hin­rich­tung in Dort­mund konn­te Hen­ny Ploe­ger wohl nicht mehr zu ihm. Statt­des­sen war sie neben ihrer Arbeit uner­müd­lich unter­wegs, um Freun­de, Bekann­te und ande­re Men­schen zu fin­den, die bereit waren, Begna­di­gungs­ge­su­che für ihren Mann einzureichen.

Sie wuss­te nicht, wann das Urteil voll­steckt wur­de. Als ihr rund drei Wochen nach der Hin­rich­tung am 15. Sep­tem­ber der Ort sei­nes Gra­bes auf dem Dort­mun­der Haupt­fried­hof schrift­lich mit­ge­teilt wur­de, war sie bereits gesund­heit­lich zusam­men­ge­bro­chen. Sie hat­te wohl nie eine wirk­li­che Chan­ce, aber sie hat trotz­dem einem ver­bre­che­ri­schen Regime die Stirn gebo­ten, bis sie nicht mehr konn­te. Sie hat Wider­stand geleis­tet im bes­ten Sinne.

Kur­ze Zeit spä­ter wur­de bei ihr Magen­krebs fest­ge­stellt. Dar­an starb sie im März 1945. Eigent­lich wur­de sie mit ihrem Mann ermordet.

Ich wün­sche mir sehr, dass wir es schaf­fen, eine Form zu fin­den, an die­se ver­ges­se­ne muti­ge Frau zu erin­nern. Nicht mit einem wei­te­ren klot­zi­gen Stein und erst recht nicht mit einem wei­te­ren pathe­ti­schen Bekennt­nis. Ich den­ke, es soll­te eher dar­um gehen, die bei­den, die hier lie­gen, nicht mehr nur als Kämp­fer und auch nicht nur Opfer zu sehen, son­dern ihnen ihre Ruhe zu gönnen.

Ideen­skiz­ze für eine Grab­plat­te zum Geden­ken an Hen­ny Ploe­ger. Zeich­nung: Kris­ti­na Fügenschuh

Es gibt in einem der Brie­fe von Hei­ko Ploe­ger aus dem Gefäng­nis eine Stel­le, an der er sie ganz direkt anspricht: „Lie­be Hen­ny, weißt Du noch, Ende vori­gen Jah­res konn­te ich manch­mal ne gan­ze Zeit mit Dir Hand in Hand sit­zen, wie zu Anfang unse­rer Ehe, hof­fent­lich kommt noch die­ses Jahr die Zeit wie­der, wo wir alles um uns ver­ges­sen kön­nen.“ – Wenn es Men­schen gibt, die es ver­dient haben, alles um sich ver­ges­sen zu kön­nen, dann sind es die­se bei­den. Ich fin­de, das könn­te hier für Hen­ny Ploe­ger auf einer ange­mes­se­nen, beschei­de­nen Plat­te stehen.

Das Geden­ken an sol­che wie die­se bei­den ver­lei­tet leicht zum Pathos. Natür­lich haben sie gekämpft und natür­lich waren sie Opfer. Aber sie waren vor allem ganz nor­ma­le Men­schen mit ganz nor­ma­len Träu­men vom ganz ein­fa­chen, klei­nen Glück. Auch als sol­che feh­len sie noch heute.

 

Spurensuche für Ohrenzeugen (Podcast)

Auswahl der Folgen

Die »Spu­ren­su­che« auf www.dieter-begemann.de war bis­her eine rein opti­sche Ange­le­gen­heit mit Tex­ten und Bil­dern. Eigent­lich soll­te das auch noch eine gan­ze Wei­le so blei­ben. Ich fand den Gedan­ken zwar reiz­voll, mei­ne Geschich­ten irgend­wann nicht mehr nur in les­ba­rer Form zu ver­öf­fent­li­chen, son­dern sie auch hör­bar zu machen. Aber das hat­te für mich kei­ne Eile.

Dann kam – wie so oft – das »rich­ti­ge Leben« dazwi­schen. Es ent­stand die Idee zum ers­ten Pod­cast. Wie das genau geschah, ver­rät das »MAKING OF … Fol­ge 1«. Die Mög­lich­keit zum Abru­fen sol­cher Zusatz­in­for­ma­tio­nen und Hin­ter­grün­de will ich in Zukunft mög­lichst bei allen mei­ner »Spu­ren­su­chen für Ohren­zeu­gen« anbieten.


MAKING OF … Fol­ge 1:


FOLGE 1:

Ende einer Legen­de. Die Geschich­te eines Todes in der Gestapo-Haft

Fritz Bock­horst starb am 30. Juni 1944. Als Geg­ner des Nazi-Regimes war er ver­haf­tet wor­den. Es folg­ten wochen­lan­ge Fol­ter und Ver­hö­re. Töte­te er sich selbst? War sein Tod eine Fol­ge der Fol­ter? War es Tot­schlag oder Mord? - Wei­ter zur Fol­ge 1 ->


MAKING OF …  Fol­ge 2: Eine Erin­ne­rung an Hen­ny Ploeger

Hin­ter­grün­de und Infor­ma­tio­nen zur Geschich­te hin­ter der Geschich­te von Fol­ge 2. Dar­un­ter auch eini­ge Hin­wei­se, wie es mög­lich war, dass eine außer­ge­wöhn­li­che Frau mehr als 70 Jah­re nahe­zu ver­ges­sen war.


FOLGE 2:

Viel mehr als nur die Frau »an sei­ner Sei­te«. Eine Erin­ne­rung an Hen­ny Ploeger

Hen­ny Ploe­ger war die Ehe­frau des Her­for­der Nazi-Opfers Hei­ko Ploe­ger. Den vor­herr­schen­den Vor­stel­lun­gen ihrer Gene­ra­ti­on ent­spre­chend, war sie die Frau »an sei­ner Sei­te«. Beschei­den, unauf­fäl­lig, still. Wer sich näher mit der Geschich­te der bei­den beschäf­tigt, ent­deckt jedoch noch eine ganz ande­re Hen­ny Ploe­ger. Mutig, am Wider­stand betei­ligt und bis zum Letz­ten um das Leben ihres Man­nes kämp­fend – bis sie dar­an zer­brach … Wei­ter zur Fol­ge 2 ->


Fol­ge 3:

(zur Zeit in Arbeit)


Ein Tod in der Gestapo-Haft

Die Ver­wen­dung des Lie­des „Mein Vater wird gesucht“ erfolgt mit freund­li­cher Erlaub­nis von Erich Schme­cken­be­cher und Tho­mas Friz von der Grup­pe »Zupf­gei­gen­han­sel«. Herz­li­chen Dank!

Textfassung:

Das Musik­stück „Mein Vater wird gesucht“ gehört zu den bekann­tes­ten und bewe­gends­ten Lie­dern des Wider­stands gegen die Nazi-Dik­ta­tur. Man könn­te es für die Schil­de­rung des Schick­sals des Bie­le­fel­der Arbei­ters Fritz Bock­horst hal­ten, wenn es in dem Lied heißt:

Fritz Bock­horst war der Groß­on­kel der Brü­der Erhard und Jür­gen Krull. Erhard Krull ist vie­len Men­schen in Her­ford bekannt. Seit Jah­ren enga­giert er sich mit zahl­rei­chen Aktio­nen für sozia­le Pro­jek­te, sam­melt dafür auch Spen­den oder lässt Strom­käs­ten in der Innen­stadt verschönern.

Foto Fritz Bockhorst

Fritz Bock­horst. Sein bis­her ein­zi­ges bekann­tes Foto stammt aus einer Zei­tungs­ver­öf­fent­li­chung im Jah­re 1946.

In der Fami­lie der Krulls war es wie in dem zitier­ten Lied. Man erzähl­te sich von der Ver­fol­gung des Groß­on­kels, man wuss­te, dass er die Gesta­po­haft in Bie­le­feld nicht über­lebt hat­te. Aber nie­mand akzep­tier­te die Legen­de vom Frei­tod des Fritz Bock­horst. Kei­ner woll­te glau­ben, dass er sich am 30. Juni 1944 im Gefäng­nis erhängt haben sollte.

Dabei ent­wi­ckel­te sich die Legen­de längst zur eige­nen Geschich­te. Was die bei­den Gesta­po-Beam­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mei­er am Tag nach Bock­horsts Tod sei­ner Wit­we mit­teil­ten, wur­de zur Geschich­te, die sich Nach­barn und Bekann­te erzähl­ten. Ver­ein­zelt erschien sie auch in amt­li­chen Akten.

Als im Jahr 2005 mit der Ver­le­gung der soge­nann­ten Stol­per­stei­ne für die Bie­le­fel­der Opfer des Nazi­re­gimes begon­nen wur­de, mel­de­te sich ein Zeit­zeu­ge zu Wort. Sech­zig Jah­re zuvor, im Jahr 1944 war die­ser noch ein Kind. Auf­grund der Erzäh­lun­gen sei­ner Eltern und Nach­barn war er in dem Glau­ben auf­ge­wach­sen, Fritz Bock­horst wäre zum Tode ver­ur­teilt gewe­sen und hät­te sich des­halb, so sag­te er, „kurz vor sei­ner Hin­rich­tung selbst das Leben genommen.“

Stolperstein Bockhorst 2005

Im Jah­re 2005 ver­leg­ter ers­ter “Stol­per­stein” für Fritz Bock­horst an sei­nem letz­tem Wohn­ort in der Bie­le­fel­der Karo­li­nen­stra­ße 14. Der Gedenk­stein trug die Auf­schrift “Flucht in den Tod”. Die­se sprach­li­che Umschrei­bung für eine Selbst­tö­tung ging zurück auf die Gesta­po-Behaup­tung, Bock­horst habe sich aus Angst vor der Todes­stra­fe an sei­nen Hosen­trä­gern selbst erhängt.

Kein Zwei­fel, die­ser Hin­weis geschah in gutem Glau­ben. Er führ­te dazu, dass das Ster­ben des Fritz Bock­horst in der Gesta­po-Haft auf sei­nem Stol­per­stein mit den Wor­ten „Flucht in den Tod“ beschrie­ben wur­de, also mit der sprach­li­chen Umschrei­bung für eine Selbst­tö­tung. So war mit bes­ter Absicht die Gesta­po-Legen­de zur aner­kann­ten Wahr­heit über die Geschich­te eines Men­schen gewor­den war.

Erhard Krull ist mein Freund. Er wuss­te von mei­nen Nach­for­schun­gen zur Lebens­ge­schich­te des Her­for­der Nazi-Opfers Hei­ko Ploe­ger. Des­halb bat er mich, in den ver­schie­de­nen Archi­ven auch auf den Fall sei­nes Groß­on­kels zu ach­ten. Dabei wur­de ich rela­tiv rasch fün­dig. Ploe­ger und Bock­horst waren zur glei­chen Zeit in Bie­le­feld inhaf­tiert. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass sie sich dort begeg­ne­ten, zumin­dest von­ein­an­der hörten.

Fritz Bock­horst war ver­hei­ra­tet und hat­te zwei Kin­der. Der 43-jäh­ri­ge war ein ein­fa­cher Lager­ar­bei­ter, kör­per­lich eher klein und drah­tig. Hand­werk­lich war er sehr geschickt. Er hat­te nur die Volks­schu­le besu­chen kön­nen, aber ver­füg­te über Lebens­klug­heit und geis­ti­ge Beweg­lich­keit. In elf Jah­ren Nazi-Dik­ta­tur hat­te er gelernt, mit der Ver­fol­gung umzugehen.

Sechs Jahre in fünf Zuchthäusern und einem KZ inhaftiert

Als KPD-Mit­glied hat­te er mehr als sechs Jah­re in den Zucht­häu­sern Her­ford, Hamm, Bie­le­feld, Müns­ter und Ham­burg-Fuhls­büt­tel ver­brin­gen müs­sen. Dabei war er in Gesta­po-Ver­hö­ren kran­ken­haus­reif geprü­gelt wor­den und hat­te als soge­nann­ter Moor­sol­dat in einem Ems­land­la­ger meh­re­re Mona­te in einer Straf­kom­pa­nie ver­bracht, eini­ge Wochen davon sogar in Einzelhaft.

Der größ­te Teil sei­ner Gesta­po­ak­ten wur­de ver­nich­tet. Durch einen glück­li­chen Zufall sind jedoch weni­ge Frag­men­te sei­ner Ver­neh­mun­gen über­lie­fert. Es han­delt sich um die Durch­schrif­ten zwei­er Ver­neh­mungs­pro­to­kol­le mit Bock­horsts Unter­schrift und denen sei­ner bei­den Gestapo-Vernehmer.

Die Pro­to­kol­le zei­gen, dass er auch nach sei­ner Ver­haf­tung im 9. Mai 1944 ver­such­te, es sei­nen Ver­fol­gern schwer zu machen. Er war ihnen durch­aus gewach­sen und ver­such­te, sie mit klei­nen Ali­bi-Geschich­ten zu täu­schen und auf fal­sche Fähr­ten zu locken. Vor allem ging es ihm wohl dar­um, sei­ne Fami­lie zu schüt­zen und Kame­ra­den nicht zu belas­ten. Wie Hei­ko Ploe­ger wur­den auch ihm „Rund­funk­ver­bre­chen“, also das Abhö­ren soge­nann­ter Feind­sen­der vorgeworfen.

Freitod ist die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten

Es fällt schwer, das zu akzep­tie­ren, aber nach mehr als 75 Jah­ren scheint es nicht mehr mög­lich, die genaue Todes­ur­sa­che von Fritz Bock­horst nach­zu­wei­sen. Eines ist jedoch sicher: Die Gesta­po-Legen­de von sei­nem Frei­tod aus Angst vor der Hin­rich­tung ist die unwahr­schein­lichs­te und auch unglaub­wür­digs­te aller Mög­lich­kei­ten. Natür­lich muss­te Fritz Bock­horst um sein Leben fürch­ten, aber als er ums Leben kam, war noch nicht ein­mal Ankla­ge gegen ihn erhoben.

Aller­dings war eine neue Situa­ti­on ein­ge­tre­ten, die allen Geg­nern und Ver­folg­ten des Regimes ent­schei­dend neue Hoff­nung gab. Am 6. Juni 1944 waren die Alli­ier­ten in der Nor­man­die gelan­det. Der nun ein­set­zen­de Rück­zug der deut­schen Armeen auch an der West­front ließ für die Ver­folg­ten den Traum von einem bal­di­gen Kriegs­en­de und damit auch von ihrer Befrei­ung rea­lis­tisch erscheinen.

Karolinenstrasse

Aktu­el­ler Blick in die Bie­le­fel­der Karo­li­nen­stra­ße. Im Haus Num­mer 14 (dunk­les Haus auf der rech­ten Sei­te) leb­te Fritz Bock­horst im Jah­re 1944 mit sei­ner Fami­lie. Nur weni­ge Meter wei­ter »um die Ecke« wohn­te der Arbei­ter Gus­tav Mil­se in der Kam­mer­ats­hei­de 16. Bock­horst und Mil­se waren wäh­rend der NS-Zeit immer wie­der zur glei­chen Zeit in Haft. wo sie wie­der­holt auch gemein­sam »ver­hört« und schwer gefol­tert wurden.

Auf der ande­ren Sei­te ver­schärf­te sich nun jedoch noch ein­mal die Bru­ta­li­tät, mit der die Gesta­po gegen die Häft­lin­ge vor­ging. Nur fünf Tage vor Fritz Bock­horst starb in der Gesta­po­haft bereits der Dür­kopp-Arbei­ter Karl Twes­mann aus unge­klär­ten Grün­den. Auch sei­ne Ver­neh­mer waren Kauf­mann und Reth­mey­er. Auch bei ihm lau­te­te der Vor­wurf „Rund­funk­ver­bre­chen“. Wie Zeu­gen nach dem Krieg bestä­tig­ten, war auch er wäh­rend der tage­lan­gen Ver­hö­re „fürch­ter­lich geschla­gen“ worden.

Fritz Bock­horst wur­de auf dem Bie­le­fel­der Senne­fried­hof beer­digt. Als sei­ne Wit­we mit ihren Kin­dern die Trau­er­hal­le betrat, sah sie den Leich­nam ihres Man­nes auf­ge­bahrt im offe­nen Sarg. Auch Gesta­po-Beam­te waren anwesend.

Kauf­mann und Reth­mey­er hat­ten behaup­tet, Bock­horst habe sich an sei­nen Hosen­trä­gern erhängt. Frie­da Bock­horst erschien das von Anfang an als völ­lig unglaub­wür­dig. Sie hat­te noch am Tag vor sei­nem Tod kurz mit ihrem Mann im Bie­le­fel­der Gesta­po­ge­bäu­de spre­chen kön­nen. Über die­ses Gespräch berich­te­te sie spä­ter: „Mein Mann erklär­te mir, ich sol­le den Kopf hoch hal­ten, für uns schie­ne auch mal wie­der die Sonne.“Deshalb such­te sei­ne Frau nun mit ihren Bli­cken den Hals ihres Man­nes nach Spu­ren ab, als sie an sei­nem Sarg stand. Drei Jah­re spä­ter gab sie gegen­über einem Unter­su­chungs­rich­ter zu Pro­to­koll, sie habe kei­ne Hin­wei­se auf Stran­gu­la­ti­on erken­nen kön­nen. Jedoch habe sie Blut­ver­krus­tun­gen an sei­nen Zäh­nen gesehen.

„ … eine Wunde, die wie ein Loch aussah“

Und dann tat Frie­da Bock­horst in der Trau­er­hal­le etwas, womit die Gesta­po­be­am­ten offen­sicht­lich nicht gerech­net hat­ten. Bevor die­se reagie­ren und ein­grei­fen konn­ten, trat sie vor und lös­te blitz­schnell ein Pflas­ter, das ihrem Mann auf die Stirn geklebt wor­den war. Was sie dort ent­deck­te, beschrieb sie in einer Zeu­gen­aus­sa­ge von 1947 mit den Wor­ten: „… über dem lin­ken Auge hat­te er eine Wun­de, die wie ein Loch aus­sah“. Und wei­ter: „Die Wun­de befand sich direkt über der lin­ken Augen­braue. Über dem lin­ken Auge saß eine soge­nann­te Borke.“

Graeber Bockhorst und Milse

Die Grä­ber von Fritz Bock­horst und Gus­tav Mil­se auf dem »Ehren­feld der poli­tisch Ver­folg­ten« des Senne­fried­ho­fes in Bie­le­feld. Die bei­den KPD-Mit­glie­der wohn­ten nur weni­ge hun­dert Meter von ein­an­der ent­fernt und waren wäh­rend der gesam­ten NS-Zeit immer wie­der auch gemein­sam Haft und Fol­ter aus­ge­setzt. Sie wur­den auch kurz vor Bock­horsts Tod teil­wei­se zusam­men ver­hört und, nach den Aus­sa­gen über­le­ben­der Mit­ge­fan­ge­ner, erneut schwer gefol­tert. Gus­tav Mil­se wur­de am 3. August 1944 vom Volks­ge­richts­hof zum Tode ver­ur­teilt und am 22. Sep­tem­ber 1944 in Dort­mund hinerichtet.

In der NS-Zeit blie­ben Frie­da Bock­horsts Ent­de­ckun­gen fol­gen­los. Natür­lich, möch­te man hin­zu­fü­gen. Als sie ihre Aus­sa­gen im Jahr 1947 zu Pro­to­koll gab, sam­mel­te ein Unter­su­chungs­rich­ter belas­ten­des Mate­ri­al über die Gesta­po­be­am­ten Karl Kauf­mann und Otto Reth­mey­er. Wohl auch des­halb unter­zeich­ne­te Frie­da Bock­horst abschlie­ßend eine Erklä­rung, in der es hieß: „Ich bin damit ein­ver­stan­den, falls sei­tens der zustän­di­gen Staats­an­walt­schaft gegen Kauf­mann und Reth­mey­er ein Ver­fah­ren wegen Mor­des oder Tot­schla­ges ein­ge­lei­tet wird, dass mein Mann exhu­miert wird.“

Zu die­ser Exhu­mie­rung kam es jedoch nicht. Es gab zwar wei­te­re Zeu­gen, die von Gewalt­tä­tig­kei­ten und Dro­hun­gen der bei­den Gesta­po-Beam­ten berich­te­ten. Es fand sich jedoch nie­mand, der Anga­ben über den Tod von Fritz Bock­horst machen konn­te. Auch kein wei­te­rer Zeu­ge, der sei­ne Lei­che gese­hen hatte.

Für die Angehörigen der Opfer endete das Unrecht 1945 nicht. Es bekam ein anderes Gesicht.

Sein Tod gehört des­halb zu der unge­heu­ren Viel­zahl von Fäl­len aus der NS-Zeit, bei denen ein Ver­bre­chen ver­mu­tet, aber nicht bewie­sen wer­den kann. Jahr­zehn­te­lang blie­ben die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen allein gelas­sen mit die­ser Unge­wiss­heit und mit den Lügen und Legen­den, die von den Tätern über ihre Opfer in die Welt gesetzt wur­den. Das NS-Unrecht ende­te für die Ange­hö­ri­gen also nicht mit der »Stun­de Null« im Jah­re 1945. Es bekam ein ande­res Gesicht.

Dazu gehört, dass die Täter von damals noch viel zu oft die Deu­tungs­ho­heit über die Geschich­te ihrer Opfer behal­ten haben. Dazu gehört auch, wie die­se erin­nert und wie ihrer gedacht wird. Viel zu oft, bis heute.

Stolperstein Bockhorst 2019

Im April 2019 neu ver­leg­ter »Stol­per­stein« für Fritz Bock­horst in der Bie­le­fel­der Karo­li­nen­stra­ße 14 mit dem geän­der­ten Hin­weis, dass die Umstän­de sei­nes Todes nie geklärt wur­den. Der 14 Jah­re zuvor ver­leg­te Gedenk­stein, der einen Frei­tod aus Angst vor einer dro­hen­den Hin­rich­tung nahe­leg­te, wur­de entfernt.

Es war also höchs­te Zeit, die Gesta­po-Legen­de von Fritz Bock­horsts Frei­tod end­lich bei­sei­te zu legen und wahr­heits­ge­mäß zu erklä­ren, die Umstän­de sei­nes Todes wur­den „nie geklärt“. Ein neu­er Stol­per­stein mit die­ser Inschrift wur­de im April 2019 an Bock­horsts letz­tem Wohn­ort Bie­le­feld, in der Karo­li­nen­stra­ße 19, offi­zi­ell vorgestellt.

Notwendige Nachbemerkung:

Der Bie­le­fel­der Dür­kopp-Arbei­ter Karl Twes­mann starb fünf Tage vor Fritz Bock­horst, am 25. Juni 1944, eben­falls in der Gesta­po­haft. Wie zuvor erwähnt, wird auch auf sei­nem Gedenk-Stol­per­stein in der Oel­müh­len­stra­ße 15 von einer „Flucht in den Tod“ gespro­chen. Auch bei ihm gibt es jedoch nicht den gerings­ten Hin­weis auf einen Frei­tod. Fest steht bis­her nur, die Umstän­de sei­nes Todes sind sehr frag­wür­dig und wur­den nie geklärt. Des­halb wäre es ange­mes­sen, wenn auch sein Gedenk­stein kor­ri­giert und aus­ge­wech­selt würde.

Aller­dings ist bis­her nur wenig über Karl Twes­mann und sei­ne Lebens­ge­schich­te bekannt. Bis­her gibt es nicht ein­mal ein Foto von ihm. Für mög­li­che Hin­wei­se wäre ich sehr dank­bar. Sie errei­chen mich mit einer mail an:

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oder tele­fo­nisch unter 05221 – 275 39 07

Herz­li­chen Dank für Ihre Mühe im Voraus.


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